zuerst erschienen in der Sprachrohrausgabe 225 (Juli bis September 2022)
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Quo vadis ecclesia evangelica?
Oder: Warum treten Protestanten aus der Evangelischen Kirche aus?
Diese interessante Frage stellte Hubert Wolf, katholischer Kirchenhistoriker an der Universität Münster, in einem kurzen Begleitvideo zur Sendung des Aspekte-Magazins ,,Wozu brauchen wir die Kirche?" vom 03. Juni 2022. (1) Es war schon interessant, dass sich die Sendung fast ausschließlich mit der katholischen Kirche beschäftigte. Die evangelische kam nur am Rande vor.
Die Kirchen stehen für Werte
Hubert Wolf erklärte, dass die Kirche - er meinte die katholische; ich nehme das aber selbstverständlich auch für unsere evangelische Kirche in Anspruch - für Werte stünde, die sich der Staat nicht selber schaffen kann. Diese Werte seien, so Wolf, von grundlegende Bedeutung und die Basis, auf die der Staat aufbaue.
Da Wolf keine Werte nennt, habe ich selber ein wenig überlegt und gesucht - Stichwort: Werte der Gesellschaft. Dr. Andreas Lenz, MdB, zählt "Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit, Sicherheit, Wertschätzung, Toleranz, Verantwortung oder Leistung" als Konstanten auf. (2)
Die weitere Internetrecherche ergibt, dass im Zusammenhang mit dem 50. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen im Jahr 1997 die "Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten" durch eine Initiative des Inter-Action Council veröffentlicht wurde. In 19 Artikeln wird menschenfreundliches Handeln genauer behandelt. (3)
Vier Jahre zuvor hatten sich im Herbst 1993 in Chicago Vertreter vieler verschiedener Religionen zum "Weltparlament der Religionen" getroffen. Initiator dieser Begegnung war der Theologe Hans Küng. In einer "Erklärung zum Weltethos" einigten sich die Religionsvertreter auf vier Weisungen (Du sollst nicht töten, stehlen, lügen und Unzucht treiben), die in den Leitsätzen formuliert wurden:
- Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben,
- Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung,
- Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit,
- Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau. (4)
Wenn es so einfach ist, Werte zu beschreiben, denen doch im Grunde jeder zustimmen muss und die sich auch in der Bibel finden, also zumindest für Juden und Christen verbindlich sind, dann fragt man sich schon, warum es in der Welt dieses Chaos gibt, warum es so weit gekommen ist, dass eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes für die Welt nicht mehr reine Spekulation ist.
Das Dreifachgebot der Liebe
Jesus wurde einmal gefragt, was für ihn das wichtigste Gebot sei. Er antwortete im zweiten Teil so, wie wir es in den vorherigen Abschnitten sinngemäß auch lesen können: "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst." Damit greift er auf einen Vers aus dem Ersten Testament zurück, den man so wortwörtlich im 3. Buch Mose Kapitel 19 Vers 18 findet. Hier endet der Satz mit der göttlichen Deklaration: "Ich bin der HERR!" Genau diese Aussage stellt Jesus der humanitären Forderung nach der Nächstenliebe als Gebot voran: "Höre, Israel" -, und ich ergänze: Höre, Christenheit, "der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und Du sollst den Herrn, Deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all Deiner Kraft".
Auch diese Worte stammen nicht originär von Jesus. Sie sind als das „Schma Jisrael", als das Bekenntnis Israels im 5. Buch Mose Kapitel 6 Verse 4 - 5 zu finden.
Wenn die Kirchen für Werte stehen, die sich der Staat nicht selber schaffen kann, dann können diese Werte im christlichen Kontext nur im Sinn Jesu, und tatsächlich auch nur in der von ihm genannten Reihenfolge, verkündigt werden: Gott lieben und dann Deinen Nächsten wie Dich selbst! Die Liebe zu sich selbst und zum Nächsten kann sich selbstlos nur entfalten, wenn sie sich eingebettet weiß in die Liebe zu Gott und getragen durch Gottes Liebe.
Damit leben Christen in dem Bewusstsein, dass sie ihr Leben nicht sich selbst oder dem Zufall verdanken. Vielmehr ist es der Wille Gottes, dass es jeden einzelnen Menschen gibt und dass er uns diese Welt als Lebensraum, den wir pfleglich nutzen dürfen, zur Verfügung gestellt hat.
Eigentlich müsste jeder vernunftbegabte Mensch den oben beschriebenen Werten, die das menschliche Miteinander ermöglichen, zustimmen. Denn wenn die für den anderen nicht gelten, ist ja auch die eigene Existenz gefährdet. Warum sollte der andere meine Rechte achten, wenn ich das umgekehrt nicht für nötig erachte? Trotzdem steht die ganze Welt vor Problemen, die kaum zu bewältigen sind.
Christlicher Auftrag
Christliche Verkündigung kann da auf ein anderes Fundament aufbauen: Jesus Christus! Einen anderen Grund kann niemand legen, so sagt es Paulus. Christus hat uns mit seinem Tod am Kreuz von Golgatha gezeigt, wohin ein gottloses Leben führt - Leben ohne Gott, wo nur die Macht und der eigene Wille zählt: In den Tod. Mit der Auferweckung Jesu von den Toten hat Gott gezeigt, dass er diesen Tod für seine Menschen nicht will.
Reform um der Reform willen ist nicht der Weg
Zurück zu der Frage von Hubert Wolf: "Warum treten Protestanten aus der Evangelischen Kirche aus?" Er verweist darauf, dass bei den Protestanten doch eigentlich alles zu finden ist, was katholische Reformer sich wünschen: Synodale Mitverantwortung, Bischofswahl, Frauen im Pfarramt, kein Zölibat und anderes mehr.
Wolf macht deutlich, dass jede Reform das Ziel haben muss, die Verkündigung des Evangelium zu ermöglichen, auf Jesus Christus hinzuweisen. Eine Reform um der Reform willen bringt keine Kirche auch nur einen Schritt weiter. Ob dieser Gedanke die "Reformer" in der Evangelischen Kirche leitet, das stelle ich nach meinen Beobachtungen und Erfahrungen bewusst in Frage.
Wie aber wollen die Kirchen sich in Zukunft aufstellen, um Menschen zu gewinnen? Ich gehe hier nur auf das ein, was ich in der Evangelischen Kirche wahrnehme.
Best Practice
Auf der einen Seite werden immer wieder Beispiele genannt, wo sich Kirchen oder kirchliche Mitarbeiter wunderbar in der Öffentlichkeit präsentieren können - "Best Practice" ist der moderne Begriff. Die Sendung "Aspekte" erzählt von der Hamburger Pastorin Josephine Teske, die ihr Leben mit Pfarramt und Kindern auf Instagram mit rund 35.000 Follower teilt. Sie feiert Andachten und ihre Kochkünste. "Was sie macht, macht Phine mit Leidenschaft: predigen, hadern und hoffen, trauern und tanzen", so ist es auf der Internetseite "Yeet" zu lesen.
Im "Stadt-Anzeiger West" vom 23.06.2022, Teil der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, kann man lesen, dass Landesbischof Ralf Meister die Gemeinde Johannes-der-Täufer in Wettbergen überschwänglich lobt: "Diese Kirche ist ein Vorbild". Die überaus erfolgreiche Gemeindearbeit geht auf das Engagement des ehemaligen Pastors Schwarz zurück, unter dessen Ägide u.a. der Kinderzirkus "Giovanni" gegründet wurde. Diese Arbeit konnte erfolgreich weitergeführt werden.
Ganz automatisch fragt man sich: Ist das die Zukunft der Kirche? Für einzelne Kirchengemeinde sicherlich. Wenn man Josephine Teske im Video zuhört, spürt man, dass Sie auf diese Weise gern ihren Glauben teilt. Arbeit mit Kindern wie in Wettbergen begeistert immer. Aber nicht jeder will sein (Privat)Leben in den sozialen Netzwerken öffentlich teilen. Und die Leitung eines Zirkus' gehört nicht zum allgemeine Ausbildungsprogramm der Kirchen.
Stellenabbau
Ich nehme in der Evangelischen Kirche noch einen anderen Trend wahr. Landauf, landab ist von der zwingenden Notwendigkeit zu finanziellen Einsparungen die Rede. Obwohl die Kirchensteuereinnahmen stetig gestiegen sind, klagt die Hannoversche Landeskirche seit Mitte der 1980er Jahre, dass das Geld weniger werde. Begründet wird dies mit der hohen Zahl der Kirchenaustritte.
Wenn gespart werden muss, kann dies am einfachsten im Personalbereich geschehen - wie auch sonst in der Wirtschaft üblich. Da wesentlich mehr Pastorinnen und Pastoren in den Ruhestand gehen als nachrücken - das Verhältnis lag zuletzt ungefähr bei 100:30 -, fällt es den Kirchenkreistagen, die seit kurzem Kirchenkreissynode heißen, nicht schwer, Pfarrstellen aufzugeben. Da die Arbeit nicht weniger wird, wird sie auf die noch vorhandenen Schultern verteilt. Das führt dann bei den Pfarrstelleninhabern zu Abgrenzversuchen, die wiederum die Gemeindeglieder zu spüren bekommen. Eine fatale Entwicklung.
Kirche vor Ort
Der einzige Weg aus dieser Krise ist in meinen Augen die Rückbesinnung auf den eigentlichen Auftrag der Kirche: Verkündigung des Evangeliums in der Kirchengemeinde vor Ort - mit allen Facetten, die möglich sind. Hier fühlen sich Menschen mit "ihrer" Kirche verbunden, Sie sind bereit, Kirchensteuern zu zahlen, und sie engagieren sich ehrenamtlich. So habe ich es bei meinem Besuch in meiner ersten Kirchengemeinde erlebt. Eine junge Mannschaft hatte ein wunderbares Gemeindefest organisiert. Allerdings werden Gemeindeglieder in Zukunft sehr genau beobachten, wofür die Kirchensteuer eingesetzt wird.
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Anmerkungen:
1 https://mediathekviewweb.de/#query=Aspekte Mit diesem Link kann die ganze Sendung und das kürzere Begleitvideo aufgerufen werden.
2 https://www.andreas-lenz.info/blog/blog-werte/werte-unserer-gesellschaft-welche-werte-halten-uns-zusammen.html
3 https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine_Erkl%C3%A4rung_der_Menschenpflichten
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Weltethos
5 https://yeet.evangelisch.de/personen/josephine-teske
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