Samstag, 7. September 2019

Ecclesia evangelica, quo vadis? Fortsetzung 02

Sicherlich hat sich in den letzten Wochen und Monaten der eine oder die andere auch die Frage gestellt, wohin der Weg der lutherischen Kirche tatsächlich führt. Das Sommerloch hielt keine guten Nachrichten bereit.

Kirchenaustritte


Da war zunächst der Bericht über die Austrittszahlen in den beiden großen Volkskirchen - und prompt häuften sich bei uns die Austritte. Das tat richtig weh!

Ergebnisoffen über den Sonntagsgottesdienst nachdenken


Und dann folgte auch noch die Veröffentlichung zum Ergebnis einer aktuellen Gottesdienststudie der Evangelischen Kirche in Deutschland. Weil “der Sonntagsgottesdienst vor allem ein Zielgruppengottesdienst für ehrenamtliche Mitarbeiter und hochverbundene Kirchenmitglieder” sei, könne man den Gemeinden “angesichts schwindender personeller und finanzieller Ressourcen, vor allem aber mit Blick auf die geringe Reichweite” auch nahelegen, “über den traditionellen Sonntagsgottesdienst ergebnisoffen nachzudenken”. Unter den Meppener Kollegen in der Ökumenischen Pfarrkonferenz rief dieser Vorschlag nur ungläubiges Kopfschütteln hervor.

Problembeschreibung


Jedoch ist der hier durchschimmernde technokratische und marktorientierte Ansatz in unserer Landeskirche eine Option, mit den anstehenden und nicht zu leugnenden Problemen umzugehen. Man muss davon ausgehen, dass in den nächsten 10 bis 15 Jahren die Zahl der Gemeindeglieder um 22 Prozent sinken wird und dass es in diesem Zeitraum bei Pastorinnen und Pastoren einen Rückgang von bis zu 40 % geben wird.

Wir reiten die Welle Pfarrberuf 2030


In der Hannoverschen Landeskirche hat sich mit Unterstützung der Personalabteilung und der Einrichtung für Personalberatung eine Bewegung gegründet, die unter dem Titel “Wir reiten die Welle - Pfarrberuf 2030” agiert. Man will sich von den anrollenden Problemen nicht wegspülen lassen, man will sie bewältigen. So weit, so gut.

Im letzten Sprachrohr berichtete ich von der zweiten Tagung dieser Bewegung in Loccum. Ende August nahm ich in Hannover an der dritten Fortsetzungsveranstaltung teil - “Follow up” war der aktuelle Arbeitstitel.

Die bereits im letzten Sprachrohr umrissenen Stichworte - Pfarramt und Verwaltung - multiprofessionelle Teams - Kirche im Sozialraum - wurden noch einmal diskutiert. Die Finanzmittel, die zukünftig nicht (mehr) für Pfarrstellen benötigt werden, weil diese angesichts des einsetzenden Pfarrermangels nicht besetzbar sind, diese Finanzmittel sollen für die Bildung multiprofessioneller Teams und deren Arbeit in verschiedenen Sozialräumen eingesetzt werden.

Dabei richtet sich der Blick nicht allein auf die klassisch kirchlichen Berufsfelder - Pastor, Diakon, Kirchenmusiker, Küster, Gemeindesekretär - , ausdrücklich werden Verwaltungs- und Baufachleute oder auch Eventmanager in die Überlegungen mit einbezogen. Auch sie sollen zukünftig bei den Kirchengemeinden angestellt sein. Diese sollen sich in einem Verbund organisieren, der durchaus 10.000 und mehr Gemeindeglieder umfassen kann.

Wirtschaftliche Strukturen - Zukunft der Kirche?


Deutlich ist, dass die “schwindenden personellen und finanziellen Ressourcen” hier die Entwicklung bestimmen. Es stellt sich aber die Frage, ob es den “multiprofessionellen Teams” in den verschiedenen “Sozialräumen” gelingen wird, Menschen an die wie auch immer gearteten Gemeinden zu binden. Und können beispielsweise zwei Pfarrstelleninhaber - diese Annahme ist durchaus realistisch - 10.000 Gemeindeglieder seelsorgerlich betreuen, unterstützt von einem Team und von Verwaltungsaufgaben entlastet?

Sowohl in Loccum als auch in Hannover war den Protagonisten ein großer Elan und Optimismus abzuspüren. Es besteht der feste Wille, sich von den Problemen nicht überrollen zu lassen. Allerdings bleibt die Frage, ob sich dieser Schwung auf die Gemeinden übertragen lässt und ob die sich nach Gesichtspunkten organisieren lassen, die sich an wirtschaftliche Strukturen orientieren. Denn das ist ganz klar: Wenn die Gemeinden diesen Weg nicht mitgehen, ist der Ansatz zum Scheitern verurteilt.

Martin Luther


»In kurtz wirds an pfarherrn und predigern so seer mangeln, das man die itzige aus der erde würde er aus kratzen, wenn mans haben kunde. Dann werden die papisten und auch unsere baurn sehen, was sie gethan haben. Der ertzten und juristen bleibt genug, die welt zu regirn. Man mus 200 pfarherr haben, da man an einem juristen gnug hat … Es mus ein iglich dorff und flecken einen eigen pfarrherr haben. Mein gnädiger herr hat an 20 juristen gnug, dagegen mus er wol ein achzehenhundert pfarrherr haben. … Wir mussen noch mither zeit aus juristen und medicis pfarrherr machen, das werdet ir sehen.«

(WA TR 1, 843; zitiert nach Gisela Kittel, Ohne Predigt des Evangeliums kann keine evangelische Kirche sein - http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv.php?a=show&id=4395; vgl. auch http://www.hannoverscher-pfarrverein.de/material/3.pdf Seite 13)

Die Kirche - “Public Player” oder “Gemeinschaft der Heiligen”

Mitschrift des Vortrages von Frau Prof. Dr. Dorothea Wendebourg auf dem Pfarrvereinstag am 03.06.2019


Im direkten Gegensatz zum Weg der “Welle” stand der theologische Vortrag von Frau Professorin Dorothea Wendebourg beim Pfarrvereinstag in Hannover Anfang Juni. Auch Frau Wendebourg sprach den Rückgang der Mitgliederzahlen an. Nach ihrer Einschätzung aber reagiere die Kirche mit einer gewissen “Coolness”, so die Professorin wortwörtlich. “Wäre nicht Trauer angemessen, dass immer weniger Menschen auf den Trost des Evangeliums bauen”, so lautete ihre Frage.

Den Verantwortlichen in der Kirchenleitung warf Frau Wendebourg vor, dass die “Verheißung der Gemeinschaft der Heiligen” keine Rolle mehr spiele. Den Repräsentanten der Evangelischen Kirche ginge es in erster Linie darum, auf Augenhöhe mit “öffentlichen Playern” zu kommunizieren. Das nannte die Professorin “eine hohle Zuversicht”. Sie kritisierte: “Wir ersparen uns die Diskussion über den Kern des Evangeliums. - Wenn wir weniger zu hören sind, ist das die Folge, weil wir nicht mehr wissen, was wir sind.”

Ähnliches konnte man im Weserkurier aus Bremen lesen, als dort die Kirchenaustritte kommentiert wurden: “Eigentlich müsste die christliche Kirche im Jahr 2019 ihre Blütezeit haben. Nie waren die Zeiten aufgeregter, nie erschien die Welt unübersichtlicher. Kirche, gebaut auf einem Wertekanon aus Nächstenliebe und Verantwortungsbewusstsein, könnte Orientierung geben und begeistern - doch sie tut es nicht. Die Folge ist fatal: Eine Kirche, die unsichtbar ist und nicht wahrgenommen wird, ist entbehrlich.“ (zitiert nach: Meppener Tagespost, 22.07.2019, Seite 2)

Was sind wir als Kirche?


In ihrem engagierten Vortrag entfaltete Dorothea Wendebourg ihre Sicht der Kirche, indem sie die nachfolgenden vier theologischen Bestimmungen auslegte:
  1. Kirche ist heilige Kirche
  2. Kirche ist Gottesdienstkirche
  3. Kirche ist Gemeindekirche
  4. Kirche ist Pastorenkirche

1. Heilige Kirche

Wir glauben die eine Heilige Kirche, Gemeinschaft der Heiligen
Wir sind die Gemeinschaft der Heiligen - wir legen uns damit ein Gottesprädikat zu - Gott allein ist heilig - das Gottesprädikat muss mit Gott korrespondieren - Gott ist in seiner Kirche in besonderer Weise gegenwärtig - der Heilige Geist
  • Glauben an Gott
  • Bekenntnis Gottes
  • Verehrung Gottes
Wenn wir diese Gottesbezogenheit nicht leben sind wir überflüssig

2. Gottesdienstkirche

Die Gemeinschaft der Heiligen versammelt sich vor Gott - zum Lobpreis Gottes - der kommt nicht immer im erforderlichen Maß vor, darin sieht Frau Wendebourg ein Defizit in unseren Gottesdiensten
  • Gemeinschaft der Heiligen regeneriert und organisiert sich im Gottesdienst
  • Geisteswirkschaft liegt nicht in unserer Hand
  • ohne Verkündigung verstummt das Wissen
  • Gottesdienst ist wechselseitige Stärkung, die die Gemeinschaft der Heiligen erfahrbar macht
Frau Wendebourg fordert die Stärkung des Gottesdienstes - sie erlebt den Abbau von Pfarrstellen und Kirchenmusikerstellen

3. Kirche ist Gemeindekirche

  • um eine Kanzel, einen Taufstein, einen Altar sich versammelnde Gemeinde
Als Früchte der Gottesdienstkirche betrachtet Frau Wendebourg
  • soziale Knotenpunkte
  • kulturelle Knotenpunkte 
  • politische Knotenpunkte 
Sie bezeichnet diese “Knotenpunkte” als “Abwärme” des Gottesdienstes; bleibt die “Hauptwärme” nicht, verschwinden die Folgeerscheinigungen oder verselbstständigen sich als Kreise, die auf Kirche verzichten können

Geringschätzung der Ortsgemeinde (vgl. Pfarrerblatt)

Bedenklich: Zusammenlegungen, die sich aus ökonomischen Kriterien sich speist.

Verwaltung sind dienende Elemente

Abwertung des Gemeindepfarramtes - Aufwertung der übergemeindliche Pfarrstellen

so wird der Gottesdienst ein Angebot unter anderen

4. Kirche ist Pastorenkirche

Darauf sollte man stolz sein! Dabei ist zu berücksichtigen:

Heiligkeit gilt für alle Glieder - keine priesterliche Vermittler - alle Christen stehen in der priesterliche Verpflichtung, durch persönliches Zeugnis den Weg zum Glauben für andere zu weisen

Luther: “Wir sind alle Priester, aber nicht alle Pfarrer.”

Der Unterschied liegt in der beruflichen Ausbildung - Pfarrer haben die Aufgabe, das Zeugnis aller Christen öffentlich zur Sprache zu bringen - Qualifikation idealerweise durch ein Akademiestudium

Ordinationsgebundes Amt - einzigartiges Gewicht - dieses Amt ist für die Weitergabe des Wortes Gottes verantwortlich

lebendige Gemeinden setzen lebendige Pastoren und Pastorinnen voraus

Pastorenamt und Gemeindeämter sind komplementär, deshalb ist die Abwertung des Gemeindepfarramtes absolut kontraproduktiv

Landeskirche unterstützt übergemeindliche Pfarrämter - hier glänzt es -, das Gemeindepfarramt ist grau

dagegen: Ortsgemeinden streuen die Saat zum Pastorennachwuchs aus

Amtsträger an der Basis sind die Säulen der Kirche und auch die Stützen des Kirchensteuersystems

Diskussion

Die sich anschließenden Diskussionsbeiträge aus der anwesenden Pfarrerschaft richteten sich weniger an die Vortragende als vielmehr an die anwesenden Mitglieder des Landeskirchenamtes. Einer der Kollegen fragte in Richtung der landeskirchlichen Vertreter, ob man am langanhaltenden Applaus für Frau Wendebourg gemerkt hätte, wie sehr die Referentin die Sorge vieler Vereinsmitglieder über die gegenwärtig von der Landeskirche eingeschlagene Richtung zum Ausdruck gebracht habe.

Augsburger Bekenntnis


Die Frage nach dem Sein der Kirche hat Theologen natürlich schon von jeher beschäftigt. Im Augsburger Bekenntnis von 1530, auf das wir Pastoren bis heute verpflichtet werden und das neben der Bibel auch der Landeskirche als Richtschnur dient, hier formulierten die lutherischen Reformatoren um Philipp Melanchthon und Martin Luther: “Es wird gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. …” (CA Artikel 7)

Pfarrberuf 2030? - Gemeinde 2030?


Dieser theologischen Bestimmung kommt der Ansatz von Frau Professorin Wendebourg näher als die Überlegungen aus der “Welle”. Allerdings stellt sich die Frage, ob in den nächsten Jahren genügend Pfarrerinnen und Pfarrer gefunden werden, die diesen Weg einer theologischen Neubesinnung mitgehen.

Und wie werden die Kirchengemeinden aussehen? Bleiben genügend Mitglieder, die mit ihrer Kirchensteuer dazu beitragen, dass die breit aufgestellt lutherischen Volkskirche weiter existiert? Oder organisiert sich lutherische Kirche dann als Freikirche, die nicht mehr auf ein Steueraufkommen zurückgreifen kann, sondern wo jede einzelne Gemeinde für ihren Finanzbedarf aufkommen muss?

Ecclesia evangelica, quo vadis?


Die Frage bleibt spannend und wird uns in den nächsten Jahren weiter beschäftigen.