Donnerstag, 31. Juli 2025

Ökumenischer Pfingstgottesdienst 2025 - Windthorstplatz Meppen

Vorerst schließen will ich diese Reihe mit der Predigt, die ich beim ökumenischen Pfingstgottesdienst 2025 auf dem Windthorstplatz in Meppen gehalten habe. Seit ca. 20 Jahren gestalten alle christlichen Kirchengemeinden Meppens am Pfingstmontag einen gemeinsamen Gottesdienst. Das Vorbereitungsteam hatte den Gottesdienst unter den Titel "Aufbrauch" gestellt. 

Aufbruch ...

Aufbruch - in vier Gemeinden gibt es Veränderungen bei den Pfarrstellen - Günter Bültel geht nach Papenburg, Franz Bernhard Lanvermeyer kommt nach Meppen. Pater Benny geht nach Rhauderfehn, Pater Johny bleibt. Gert Veldmann hat als pensionierter Pastor die reformierte Kirchengemeinde 3 Jahre betreut, jetzt werden Gespräche über eine Neubesetzung geführt. Ich selbst gehe zum September in den Ruhestand. Die Kollegen aus den Nachbargemeinden übernehmen erst einmal den pfarramtlichen Dienst. Das wird der Aufbruch hier in Meppen sein. 

Alle Kirchen stehen vor gravierenden Veränderungen

Dann schoss mir durch den Kopf, dass unsere Kirchen insgesamt vor gravierenden Veränderungen stehen. Dass ihr in der katholischen Kirche mit Papst Leo sehr schnell ein neues Oberhaupt bekommen habt, darf nicht unerwähnt bleiben. Interessant dürfte es für die Katholiken in Deutschland auch sein, wie es mit dem "Synodalen Weg" weitergeht. Als Stichworte werden genannt: „Macht und Gewaltenteilung“ - „Leben in gelingenden Beziehungent“ - „Priesterliche Existenz heute“ - „Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche“. 

Diese Themen sprechen mich als evangelischen Pastor natürlich an. Jedoch, was ihr diskutiert, haben wir in der evangelischen Kirche vielfach schon umgesetzt, aber auch die evangelischen Kirchen stehen vor immensen Problemen. 

Mit den Feiern zum Reformationsjubiläum 2017 hatten wir die volle Aufmerksamkeit der Medien und auch Zuspruch von den Menschen. Danach ist die evangelische Kirche - zumindest die lutherische - implodiert. Sie war nicht in der Lage, auch nur noch einen der reformatorischen Höhepunkte, die es auch nach dem Thesenanschlag von 1517 zu Hauf gab - die evangelische Kirche war nicht in der Lage, auch nur einen dieser Höhepunkte angemessen zu würdigen. Und auch keines der bisher gestarteten Zukunftsprogramme hat die Abwärtsspirale verlangsamen, geschweige denn aufhalten können. Das Ganze geht natürlich an den kleineren Kirchen wie der Baptistischen und der Neuapostolischen nicht spurlos vorüber. Das fällt mir zum Stichwort “Aufbruch” im Blick auf unsere Kirchen ein. 

Pfingsten und Aufbruch

Was sagt eigentlich die Botschaft des Pfingstfestes zum Aufbruch? In der Pfingstpredigt des Petrus können wir es lesen: “Ihr Männer von Israel,... ihr habt Jesus von Nazareth … durch die Hand der Ungerechten ans Kreuz geschlagen und umgebracht. 24 Den hat Gott auferweckt …, des sind wir Zeugen. … ”

... den hat Gott auferweckt ...

Petrus setzt beim Zentrum des christlichen Glaubens an: Jesus Christus, auferstanden von den Toten. Und das ist keine fixe Idee, das ist die Realität, die die Jünger erlebt haben: “Des sind wir Zeugen!”

An dieser grundlegenden Botschaft führt auch heute für unsere Kirchen und Gemeinden kein Aufbruch vorbei. Hier liegt das Fundament all unserer Bemühungen, unserer Pläne und Zukunftsszenarien. Mit der Auferweckung seines Sohnes hat Gott dem Tod die Macht genommen. All das, was wir jetzt als bedrohliches Chaos und Defizit erleben - Krieg, wirtschaftliche und politische Konflikte, schwindende Finanzen und Ressourcen gerade in den Kirchen und was Ihnen sonst noch einfällt - all das muss nicht das letzte Wort behalten. Gott hat Jesus vom Tode auferweckt zum Leben, des sind wir Zeugen!

Was sollen wir tun?

In der Apostelgeschichte heißt es: “Als sie aber das hörten, ging’s ihnen durchs Herz, und sie sprachen zu Petrus und den andern Aposteln: Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun? …” Die Antwort des Petrus ist so kurz wie prägnant: “Tut Buße, lasst euch taufen zur Vergebung eurer Sünden, so empfangt ihr die Gabe des Heiligen Geistes.” Das ist doch genau die Botschaft, die wir eben auch im Evangelium gehört haben: “Empfangt den Heiligen Geist! Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen ...” 

Heiliger Geist - Sünde - Vergebung

Damit sind drei Stichworte genannt, die - so mein Empfinden - in unserer Kirchen heute kaum noch eine Rolle spielen: Es geht um den Heiligen Geist und um die Sünde und um die Vergebung. Beginnen wir mit der Sünde.

Sünde

Im biblischen Kontext bezieht sich "Sünde" nicht primär auf einzelne moralische Verfehlungen im Sinne einer Straftat oder der Verfehlung eines einzelnen - so haben wir es leider in unsern Kirchen über Jahrzehnte und Jahrhunderte interpretiert bzw. auch propagiert. So wie ich Sünde verstehe, ist dies ein tiefer liegender Zustand oder eine Haltung, die den Menschen von Gott und von seiner eigentlichen Bestimmung trennt. Die Bibel beschreibt dies im mythischen Bild des Sündenfalls. “Ihr werdet sein wie Gott!”

Im Kern ist Sünde der Bruch der Beziehung zu Gott. Der hatte dem Menschen das ganze Paradies gegeben - bis auf die beiden Bäume im Garten! Esst nicht davon! Alles andere dürft ihr gebrauchen. Aber das ist Adam und Eva nicht genug. Sie hören auf die Einflüsterung der Schlange, des Versuchers: Ihr könnt sein wie Gott, ihr könnt alles haben! Sünde ist somit der Ausdruck einer Weigerung, sich auf die Liebe Gottes einzulassen und diese Liebe in die Welt zu tragen. Es ist die Entscheidung für das Ich - auch das kollektive Ich, für den Egoismus - statt für das Wir.

Heiliger Geist

Das zu erkennen, ist der erste Schritt. Dazu brauchen wir aber den Heiligen Geist - das ist der zweite Punkt, den wir wieder neu in den Blick nehmen müssen. Menschlich gesehen machen wir es wie Adam, als Gott ihn zur Rede stellt: "Warum hast du das getan?” Die Antwort schlägt dem Fass den Boden aus: “Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß.” Hätte Gott uns doch … Nein: “Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, das war sehr gut!” Es ist mit uns Menschen wie bei Kindern, die bei Eltern und Erwachsenen die Grenzen austesten. Wir testen Gott gegenüber unsere Grenzen aus. Es ist die Neigung, der Verführung Raum zu geben - wir können selbst Gott sein. Kinder werden irgendwann erwachsen. 

Vergebung

“Denen ihr die Sünden erlasst …” sagt Jesus, "Lasst euch taufen zur Vergebung der Sünden …” so sagt es Petrus. Vergebung - das ist der dritte Punkt - Vergebung ist … das Angebot Gottes, die durch Sünde entstandene Trennung zu überwinden und eine neue, heilvolle Gemeinschaft zu ermöglichen. Es geht nicht darum, dass Gott etwas "durchgehen lässt", sondern dass er aktiv auf den Menschen zugeht, um die Wunden der Sünde zu heilen. Paulus: So bitten wir nun an Christi statt - lasst euch versöhnen mit Gott! Nehmt das Geschenk der Vergebung an. 

Vergebung ist der Grundstein für einen Neuanfang - auch im menschlichen Miteinander. Vergebung ermöglicht es dem Menschen, sich von vergangenen Fehlern zu lösen und einen neuen Weg einzuschlagen, einen Weg, der von Liebe, Gerechtigkeit und Frieden geprägt ist. Vergebung ist ein transformativer Prozess, der das Herz und den Geist erneuert und den Menschen befähigt, in Übereinstimmung mit Gottes Willen zu leben.

Rückkehr zu den Wurzeln

Das ist in Kürze zusammengefasst die Botschaft unseres christlichen Glaubens: “Tut Buße, lasst euch taufen zur Vergebung eurer Sünden, empfangt die Gabe des Heiligen Geistes.” Wenn unsere Kirchen wieder zu diesem Kern der christlichen Botschaft zurückkehren, wenn wir diese Botschaft glaubhaft verkünden und leben, als begnadigte Sünder, wenn wir diese Botschaft leben in Liebe zu Gott und den Menschen, wenn wir dem Geist Gottes die Kraft der Veränderung zutrauen, dann können unsere Kirchen vielleicht aufbrechen. 

Aufbruch

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen - wünschen wir, die wir die Pfarrstellen wechseln oder in den Ruhestand gehen und auch die, die bleiben - wir wünschen Ihnen einen gesegneten pfingstlichen Aufbruch, einen Aufbruch, der von Gottes Geist begleitet und geführt wird, gegründet auf dem Fundament Jesus Christus.

Auch wenn sich kirchliche Strategen noch so viele und schöne und schillernde Zukunftsprogramme ausdenken, Paulus hat recht, wenn er sagt: Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, Jesus Christus, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Ecclesia evangelica, quo vadis? Gedanken zur Auswertung der 6. KMU

zuerst erschienen in der Sprachrohrausgabe 236 (März bis Mai 2025)

Ecclesia evangelica, quo vadis?
Evangelische Kirche, wohin gehst du?

Ursprünglich hatte ich einen Artikel zur 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung  (KMU) “Wie hältst Du’s mit der Kirche?” (1) schreiben wollen. Aber dieses Unternehmen erwies sich dann doch als zu komplex. Deshalb stelle ich hier drei Texte zusammen, die alle einen Aspekt der Untersuchung beleuchten. Bei dem ersten Text handelt es sich um einen Kommentar, den ich zu einem Artikel im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt verfasst habe: “Muss sich alles ändern?” von Eckehard Möller. Der zweite Artikel ist das leicht überarbeitete Grußwort, das ich zum 70. Kirchweihjubiläum der Bethlehemkirchengemeinde vortrug. Im dritten Artikel beziehe ich mich auf einen Aufsatz zum  Thema “Theologie”, den ich jetzt aktuell gefunden habe. 

Du Ecki, ich trete aus der Kirche aus - Teil 1

"Du, Ecki, was ich Dir noch sagen wollte: Ich trete übrigens nächsten Monat aus der Kirche aus. Nimm es auf keinen Fall persönlich! Aber warum soll ich für eine Institution zahlen, die ich ja doch kaum nutze." - Diese Zeilen konnte man letztens in einem Aufsatz von Eckehard Möller im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt (Ausgabe 12/2024 [2]) lesen. 

Nun folgt mein Kommentar. 

4 Kirchen - 5 Pfarrpersonen - 1 Gottesdienst am Sonntag

In einem westfälischen Verbund mehrerer bisher selbstständiger Kirchengemeinden gibt es 5 Pfarrpersonen und 4 Kirchen. Weil ein weiterer Pfarrbezirk hinzukommt, wird sonntags jeweils nur ein Gottesdienst angeboten, sodass in einer Kirche ein Gottesdienst im Monat stattfindet. Nachdem die EKD 2019 den Sinn und die Durchführung des Sonntagsgottesdienstes ergebnisoffen diskutieren wollte, nahm der Hannoversche Landesbischof 2023 das Thema wieder auf. Als Ergebnis der neuesten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung geben die Autoren die Parole aus, Kirche solle sich auf Aktivitäten im Bereich sozialen und solidarischen Handelns konzentrieren, weil Religion nicht mehr gefragt sei (vgl. dazu den hervorragenden Artikel von Isolde Karle, Religion am Ende?, Pfarrerblatt 11/2024 [3]). 

Kirche vor Ort - marginalisiert und kaputtgespart?

Mitarbeitende vor Ort haben permanent das Gefühl, dass die Kirchengemeinden marginalisiert und kaputtgespart werden. Zu Recht weist "Ecki" darauf hin, dass Gemeindeglieder sich bisher mit ihrer Kirchengemeinde verbunden wussten, wenn sie "ihre oder auch nur irgendeine Pfarrperson persönlich kannten". Die Frage in der aktuellen KMU "Hatten Sie in den letzten zwölf Monaten Kontakt zu kirchlichen Einrichtungen?“ bejahen immerhin noch 46% der Befragten evangelischer Konfession. 

Kirche vor Ort - DAS Kontaktfeld!

Als Ort der Begegnung erreichen nur die eigene Kirchengemeinde (38%) und Kirchengebäude oder Orte der Stille (19%) zweistellige Prozentwerte. Alle anderen Optionen - Seelsorge in einer Klinik oder einem Seniorenheim (3%); kirchliche Bildungseinrichtung (4%); Einrichtung der Caritas oder Diakonie (8%); kirchlicher Kindergarten (7%) - sind weit abgeschlagen. (4)

Auch bei der Frage nach der Kontaktperson erzielen die Mitarbeitenden vor Ort hohe Werte: Pfarrperson (42%), Sekretär/in (25%), Kirchenmusiker/in (22%). Die Begegnung mit Mitarbeitenden "in der Jugend-, Familien-, Senioren- oder Sozialarbeit" (31%) lässt sich nicht differenzieren, weil verschiedene Arbeitsfelder zusammengefasst wurden. (5)

Konsequenzen

Wenn Kirchenleitungen nicht endlich begreifen, dass die Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche und damit zusammenhängend die Entrichtung der Kirchensteuer auf der Verbundenheit mit der Ortsgemeinde fußt, wenn Pastorinnen und Pastoren, Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorsteher, Pfarrvertretungen und Pfarrvereine nicht vehement auf diesen Umstand hinweisen, wenn das Pfarrerblatt nicht konsequent die Linie verfolgt, die Arbeit vor Ort in den Vordergrund zu stellen, dann muss es "Ecki" - und auch wir anderen - irgendwann doch persönlich nehmen, wenn Menschen mit Kirche nichts mehr anfangen können und austreten.

Theologie

Ach ja, das darf nicht vergessen werden: Die evangelische Kirche sollte sich endlich wieder mit der Theologie beschäftigen und das verständlich und zeitgemäß in die Öffentlichkeit bringen. Das ist dann aber ein neues Thema. (vgl. den dritten Aufsatz).

Anmerkungen

(1) https://kmu.ekd.de/ Fragebogen der 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 

https://kmu.ekd.de/fileadmin/user_upload/kirchenmitgliedschaftsuntersuchung/PDF/Anhang_Fragebogen_der_6._KMU.pdf

Tabellen-Anhang mit Grundauszählungen

https://kmu.ekd.de/fileadmin/user_upload/kirchenmitgliedschaftsuntersuchung/PDF/Anhang_Tabellen_Grundauszählungen_der_6._KMU.pdf

(2) Eckehard Möller, Muss sich alles ändern?? Notwendige Wandlungen in bewegten Zeiten - zu finden über https://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt - Archiv - Suche nach dem Autor

(3) Isolde Karle, Religion am Ende? Praktisch-theologische Anmerkungen zur sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung - zu finden über https://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt - Archiv - Suche nach der Autorin

(4) Frage 111. Kirchliche Einrichtungen, zu denen in den letzten 12 Monaten Kontakte bestanden

(5) Frage 98. Bekanntheit der örtlichen Pfarrperson (Evangelische Kirchenmitglieder)

Grüße zum 70. Geburtstag - Teil 2

Das Grußwort als Sprecher der Ökumenischen Pfarrkonferenz zum 70. Kirchweihjubiläum der Bethlehem-Kirche (leicht überarbeitet)

Das Fundament

“Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Christus Jesus!” (1. Kor 3,11) Das ist das Fundament, auf dem 70 Jahre lang hier in der Bethlehemkirche Gottesdienst gefeiert wurde. Es ist eine große Verbundenheit der lutherischen Bewohner Esterfelds mit ihrer Kirchengemeinde zu spüren. Das schlägt sich auch im Gottesdienstbesuch nieder. 

Fast als Bestätigung schreibt Isolde Karle (1), eine scharfsinnige und manchmal auch scharfzüngige Professorin für Praktische Theologie an der Bochumer Universität, in ihrem Aufsatz "Religion am Ende?”: “Nach wie vor realisiert sich für etwa zwei Drittel der Kirchenmitglieder die Verbundenheit zur Kirche über die lokale Gemeinde. Alle anderen Organisationseinheiten der Kirche folgen mit großem Abstand. … Die Bedeutung lokaler Strukturen sollte die Kirche deshalb auch in Zeiten von Fusionen und Einsparungen nicht geringschätzen.”

Das deckt sich mit den Ergebnissen früherer Umfragen, die deutlich machen, dass die Austrittswilligkeit deutlich sinkt, wenn die Ortsgemeinden und das Personal nur ansatzweise bekannt sind (vgl. dazu meinen Kommentar zum Artikel von Eckhard Möller). Leider wurde diese Erkenntnis in der Vergangenheit bei allen Zukunftsplanungen konsequent ignoriert.

Soziales versus religiöses Handeln

Damit verlassen wir für einen Moment die Gemeinde-Ebene und schauen auf die Entwicklung der Kirche insgesamt. So sehen diejenigen, die die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung auswerten, die Zukunft der Kirche vornehmlich “im Bereich sozialen und solidarischen Handelns”. „Eine Steigerung ihrer Attraktivität kann die Kirche in der aktuellen Lage nicht über rein religiöse Aktivitäten gewinnen. ‚Heiliges‘ wird nicht erwartet, die Nachfrage nach Religion ist gering. Ein religiöser Fokus kann zudem zu einer Distanzierung der Mehrheit der säkularen und distanzierten Kirchenmitglieder führen, weil sie an solche Ausdrucksformen schwer anschließen können.” (2)

Wie haben die Autoren der Studie ermittelt, dass Religion die Menschen nicht mehr anspricht? Dazu diente u.a. diese Frage: „Glauben Sie, dass sich Gott in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat?“ (3) Hinter dieser Frage verbirgt sich eine theologische Richtigkeit, die aber in den Glaubensempfindungen der Gemeindeglieder, wie ich sie erlebe, nur noch sehr bedingt vorkommt. Noch steiler wird es bei Fragen in der Rubrik “Religiöse Wirksamkeitserfahrungen”; - ein Beispiel: „Ich habe schon die Erfahrung gemacht, dass dunkle Mächte auf mein Leben einwirken“. (4) Wer so fragt, muss sich nicht wundern, wenn das Ergebnis lautet: Religion ist auf dem Rückzug. 

Vielleicht hätte man fragen können: Was haben Sie bei der letzten Hochzeit, Taufe, Beerdigung erlebt, die Sie in der Kirche mitgefeiert haben? Oder wie war die Konfirmationsfeier, die Kommunionsfeier, zu der Sie eingeladen waren? Wie war es beim ökumenischen Pfingstgottesdienst? Wie war es beim Motorradgottesdienst?

Die Theologin Isolde Karle hält fest: “Selbst wenn Religion nicht mehr besonders nachgefragt würde, kann die Konsequenz der Kirche nicht darin bestehen, fürderhin von Religion Abstand zu nehmen. Das Christentum ist eine Schriftreligion wie das Judentum. Das Judentum hat nie danach gefragt, welche Resonanz es erfährt, sondern war und blieb in Diaspora und Verfolgung Schriftauslegungsreligion. Anders gäbe es das Judentum längst nicht mehr.[ …] Das kirchliche Christentum sollte von dieser mutigen Konsequenz lernen. […] Ohne eine ansprechende religiöse Kommunikation hat die Kirche keine Zukunft. In der Corona-Krise war es nicht zuletzt ein Problem, dass die Kirche nicht religiös auf die Krise zu reagieren wusste.”

Gottes Wort und Sakrament

Vielleicht sollten wir uns erinnern, was Kirche ausmacht. Im Augsburger Bekenntnis von 1530, das nach wie vor Gültigkeit hat und auf das hin Pastorinnen und Pastoren, aber auch Bischöfinnen und Bischöfe verpflichtet werden, heißt es in Artikel 7: “Es wird gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.” Damit wären wir wieder beim Eingangsvotum: “Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Christus Jesus!” (1. Kor 3,11)

Zusammenarbeit vor Ort

Dass es neben dem Einsatz in der eigenen Gemeinde auch eine Zusammenarbeit über Gemeindegrenzen hinweg und in der Region geben muss, steht, denke ich, für keinen in Frage. Es könnte sicherlich mehr passieren, als es im Augenblick der Fall ist. Aber unser Licht unter den Scheffel stellen müssen wir auch nicht. Ich erinnere an die gemeinsamen lutherischen Gottesdienste zum Buß- und Bettag abwechselnd in der Bethlehem- und in der Gustav-Adolf-Kirche. Zum Neujahrstag treffen sich Lutheraner, Reformierte, Baptisten und Gemeindeglieder aus der Neuapostolischen Kirche in einer Kirche zu einem gemeinsamen Gottesdienst. Himmelfahrt feiern Lutheraner und Reformierte zusammen. Und Pfingsten sind wir Christen alle gemeinsam auf dem Marktplatz. 

Ich werde es in den letzten Monaten meines Dienstes wohl nicht mehr erleben, dass es weiterführende Aktivitäten gibt. Ich wünsche es Euch schon, dass Ihr weiter zusammenrückt. 

Allein geht die Stimme einer einzelnen Kirchengemeinde im Sammelsurium gesellschaftlicher Stimmen und im Gewirr der stetig sich abwechselnden landeskirchlichen Zukunftsplanungen unter. Gemeinsam aber werdet Ihr stark sein.

Ich wünsche der Bethlehemkirche, ich wünsche allen anderen Gemeinden Gottes reichen Segen - das ist mein Geschenk zum Kirchweihtag. Eines ist und bleibt gewiss: Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Christus Jesus! (1. Kor 3,11)

Anmerkungen

(1) Isolde Karle, Religion am Ende? Praktisch-theologische Anmerkungen zur sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung - zu finden über https://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt - Archiv - Suche nach der Autorin

(2) Wie hältst Du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft Erste Ergebnisse der  6. Kirchenmitgliedschafsuntersuchung - Herausgegeben von der Evangelischen Kirche  in Deutschland (EKD, S. 66

(3) Frage 50. Typen des Glaubens an Gott und höhere Mächte 

(4) Frage 59. (l-o) Religiöse Wirksamkeitserfahrungen

Theologie, die von Kirche her und auf Kirche hin denkt - Teil 3

Bei der Beschäftigung mit der 6. Kirchenmitgliedschafsuntersuchung stieß ich auf einen Aufsatz von Ulrich Körtner und Jan-Heiner Tück (1) “Es braucht eine Theologie, die von Kirche her und auf Kirche hin denkt” (2). Die beiden Autoren setzen sich kritisch mit der Studie auseinander. Die Autoren halten fest: „Der epochale Säkularisierungsprozess lässt sich weder durch Aktionismus noch durch Schönfärberei aufhalten. Entschleunigung und vertieftes theologisches Nachdenken sind angesagt.“ 

Soziale Reichweite versus religiöse Reichweite

Wie Isolde Karle diskutieren die beiden Autoren die steile These, die aus der Befragung abgeleitet wurde, dass die “soziale Reichweite der Kirche heute wesentlich größer als ihre religiöse Reichweite” (3) sei. Auch wenn diese Aussage an dieser Stelle nicht ausdrücklich auf Diakonie und Caritas bezogen wird, so steht im Raum, dass Kirchenleitungen die diakonischen Angebote ausbauen wollen, in der Annahme, darüber Menschen - also Kirchensteuerzahler - für die Kirche gewinnen oder halten zu können. Körtner und Tück führen dazu aus: “Die Befragten schätzen zwar das soziale Engagement der Kirchen. Viele erkennen aber keinen Zusammenhang mehr mit den theologischen Grundlagen diakonischer Praxis ...” 

Kirche und Diakonie

Damit treffen Körtner und Tück den Nagel auf den Kopf. Ratsuchende - nach dem Ergebnis vom KMU 6 sind es im Durchschnitt allerdings nur knapp 8% der Befragten, die Kontakt zu Diakonie oder Caritas hatten - Ratsuchende aller Konfessionen und Religionen und auch Religions- und Konfessionslose nehmen das Angebot von Diakonie und Caritas gern an, verbinden dieses Angebot aber nicht zwingend mit den verfassten Kirchen. Wenn Körtner und Tück dann sagen, dass man in den Leitbildern dieser Einrichtungen zwar noch etwas liest von “einem christlichen Menschenbild, Menschenwürde und Menschenrechten”, dass aber “dezidiert biblisch-theologische Argumente” in den Hintergrund treten, dann will ich das nicht weiter kommentieren. Wer interessiert ist, kann im Internet die These überprüfen. 

Theologie

Körtner und Tück fordern: "Was wir brauchen, ist eine akademische, von Kirche her und auf Kirche hin denkende Theologie, die sich gleichwohl nicht auf binnenkirchliche Milieus verengt, sondern den wissenschaftlichen Austausch mit anderen universitären Disziplinen sucht." 

Wenn ich mich an mein Studium erinnere, dann hat es mir neue Welten erschlossen. Dabei meine ich nicht, was ich gelernt habe - da gibt es im Lauf der Zeit immer wieder neue Erkenntnisse -, vielmehr geht es darum, wie ich gelernt habe, mich kritisch mit den theologischen und gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. Mancher Kommilitone klagte: “Das Studium macht meinen Glauben kaputt!” Dem kann ich bis heute nur entgegnen: “Nein, das Studium öffnet den Glaubenshorizont.” Ich muss verstehen, wie die biblischen Texte entstanden sind. Ich muss wissen, was sich in den einzelnen (kirchen)geschichtlichen Epochen ereignet hat. Ich muss theologische Zusammenhänge systematisch erfassen und darlegen können. 

Jede Predigt, jeder Konfirmandenunterricht, letztendlich auch jedes Gespräch setzt die Frage voraus: Was hat Gott mir, vor allem, was hat er meinem Gegenüber zu sagen? Wie kann ich beispielsweise Jugendlichen, die nur noch über ein marginales biblisches Wissen verfügen, die biblischen Geschichten näher bringen? Für Körtner und Tück entspricht dieser Gedanke dem “religionssoziologischen Befund, wonach Religiosität und Kirchenzugehörigkeit viel enger zusammengehören als bislang gedacht”. Wenn ich das biblische Fundament nicht mehr kenne, dann weiß ich auch nicht, warum ich Mitglied einer Kirche sein soll. 

Agenda der Kirchen

Leider verfolgen die Kirchen eine andere Agenda; auch das haben Körtner und Tück im Blick: Asyl, Migration und Klimaschutz - aktuell: Aufarbeitung des Missbrauchsskandals auch in der evangelischen Kirche - stehen ganz oben auf der Agenda der Kirchen. In Teilen können sie mit dieser Thematik Menschen ansprechen, aber die Kirchenaustrittswelle rollt davon unbeeindruckt weiter. Solange Gott nur noch eine unbestimmte Chiffre ist, ggf. ein “Moralverstärker”, lassen sich Menschen nicht länger beeindrucken. (ähnlich Körtner und Tück). 

Wenn die verfassten Kirchen theologisch nicht deutlich machen können, was ihr eigentliches Fundament ist, werden sie sich schneller auflösen als ihnen lieb ist. Allerdings bedeutet das nicht das Verschwinden der lutherischen Kirche. Das Augsburger Bekenntnis sagt klipp und klar, dass Kirche sich da ereignet, wo das Evangelium rein gepredigt wird. Es wird immer Menschen geben, die sich in diesem Sinn um das Verständnis des Evangeliums bemühen, wie es im Ersten und im Zweiten Testament der Heiligen Schrift bezeugt wird.

Anmerkungen

(1) Ulrich Körtner ist Ordinarius für Systematische Theologie (Reformierte Theologie) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Jan-Heiner Tück ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät Universität Wien.

(2) https://www.katholisch.de/artikel/48917-es-braucht-eine-theologie-die-von-kirche-her-und-auf-kirche-hin-denkt

(3) Wie hältst du’s mit der Kirche? Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaf Erste Ergebnisse der  6. Kirchenmitgliedschafsuntersuchung, Herausgegeben von der Evangelischen Kirche  in Deutschland (EKD, S. 93

Ecclesia evangelica, quo vadis? - 7. Teil

zuerst erschienen in der Sprachrohrausgabe 231 (Dezember 2023 bis Februar 2024)

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In der Rubrik “Moment mal” in der Meppener Tagespost hatte ich zum Reformationstag 2023 gefragt: "Quo vaditis, ecclesiae?" - Wohin geht Ihr Kirchen? Jetzt muss die Frage noch einmal zugespitzt lauten: "Wohin wendet sich die Evangelische Kirche?"

Sonntagsgottesdienst - ein “Auslaufmodell”?

Im September d.J. gab der Evangelische Pressedienst (epd) eine Meldung mit der Überschrift heraus: "Bischof Meister: 10-Uhr-Gottesdienst am Sonntag ist ein Auslaufmodell." Fast alle Medien, die das Thema aufgriffen, übernahmen diese Formulierung. 

Wortwörtlich hatte Ralf Meister, dem das Bischofsamt der Hannoverschen Landeskirche übertragen ist, nicht vom "Auslaufmodell" gesprochen. Allerdings hatte er erklärt: "Jesus ist doch nicht durch Galiläa gezogen und hat gesagt, sonntags um 10 Uhr müsst Ihr kommen und beten! Da sind wir schon weiter. Gemeinden, in denen der klassische Sonntagsgottesdienst gut besucht ist, werden ihn sicher weiter pflegen. Aber als flächendeckendes Modell löst sich das auf. Andere Erzählformen treten dazu oder auch an ihre Stelle. ..." 

Aus dem Urlaub schrieb ich Herrn Meister eine lange Mail, deren Inhalt ich hier teilweise aufnehme. Allerdings antwortete weder Herr Meister noch sein Büro. Auch die irritierende und reißerische Überschrift des epd wurde nicht korrigiert, obwohl auch andere Pastorinnen und Pastoren entsetzt waren, was der leitende Theologe der Hannoverschen Landeskirche da gesagt hat. 

Gottesdienst am Sonntag - eine Ideologie?

Mich irritiert, wie leichtfertig in der Evangelischen Kirche der Sonntagsgottesdienst zur Disposition gestellt wird. 2019 war schon einmal in der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) dieser Gedanke aufgekommen. Thies Gundlach, damals einer der Vizepräsidenten des Kirchenamtes der EKD, wurde im Deutschlandfunk so zitiert: "Der Sonntagsgottesdienst ist eine zentrale Veranstaltung, aber nicht die einzige zentrale Veranstaltung. Und das soll man in großer evangelischer Freiheit vor Ort reflektieren. Ich finde das auch so wichtig, dass wir jetzt nicht den Kollegen auf's Auge drücken, Ihr müsst unbedingt jeden Sonntag Gottesdienst machen, egal ob jemand kommt, egal wer das wichtig findet. Das ist eine Ideologie, die ich nicht teilen kann."

Für Ralf Meisters Versuch, diese Position zum Gottesdienst scheinbar biblisch zu unterfüttern - Jesus habe schließlich nicht gesagt, wir sollten sonntags um 10.00 Uhr Gottesdienst feiern - habe ich überhaupt kein Verständnis. Wenn wir auf die Bibel zurückgreifen, dann kann es nur heißen: "Jesus ging am Sabbat nach seiner Gewohnheit" - also regelmäßig - "zum Gottesdienst in die Synagoge." - "Jesus predigte das Wort Gottes mit Vollmacht, nicht wie die Pharisäer und Schriftgelehrten." Christen feiern am Sonntag, am Herrentag, Gottesdienst - ich mag es ja kaum schreiben, es ist so selbstverständlich - weil Jesus Christus, wahrer Mensch und wahrer Gott, Gottes Sohn, am 1. Tag der Woche von den Toten auferweckt wurde. Und in den Zehn Geboten heißt es schließlich: Du sollst den Feiertag heiligen! 

Das Zentrum der evangelischen Kirchen wird aufs Spiel gesetzt

Sollten die evangelischen Kirchen der Ideologie der kirchenleitenden Personen folgen, dann wird diese Kirche ihr Zentrum verlieren. Die streitbare Berliner Theologin Dorothea Wendebourg erklärte schon 2019 im Blick auf die von Thies Gundlach geäußerte Meinung: “Es gibt keine Kirche als Gemeinschaft, wenn sie sich nicht definiert und aber eben auch vollzieht im regelmäßigen Zusammenkommen um Wort, Sakrament, Gebet. Der Laden fällt vollends auseinander, wenn wir das nicht mehr tun.” Und der Theologe Michael Meyer-Blanck hielt fest: “Der Gottesdienst am Sonntagvormittag ist eine gute Sitte. Jede und jeder kann sich darauf verlassen: Jetzt wird geläutet, gebetet und gepredigt - auch wenn ich selbst nicht hingehe. Ich habe aber jederzeit die Möglichkeit, dabei zu sein. Der Gottesdienst ist keine Vereinsversammlung für Kirchenmitglieder. Er ist öffentlich, regelmäßig, verlässlich. Es ist absurd, über die Abschaffung des regelmäßigen Sonntagsgottesdienstes nachzudenken.”

Hinzu kommt, dass sich die Evangelische Kirche aus der ökumenischen Gemeinschaft verabschiedet, wenn der Sonntagsgottesdienst, aus welchen Gründen auch immer, zur Disposition gestellt wird. Ich habe bisher nicht wahrgenommen, dass irgendeine andere christliche Denomination einen solchen Vorschlag auch nur ansatzweise gewagt hätte.

Ansprechende Gottesdienste

In meiner Mail an Herrn Meister schrieb ich: “Für einen ansprechenden Gottesdienst brauchen wir engagierte und gut ausgebildete Musiker, die ansprechend musizieren und die die Gottesdienstteilnehmer zum Gesang motivieren. Wir brauchen Ehren- und Hauptamtliche, die kompetent (biblische) Texte vortragen. Und schließlich brauchen wir Theologen, die "biblisch predigen" (Altbischof Hirschler). Nach dem Gottesdienst sollte es die Möglichkeit zur Kommunikation geben.”

Nach diesem Konzept versuchen wir, unsere Gottesdienste zu gestalten. Im zuverlässigen Wechsel feiern wir Abendmahlsgottesdienste und “normale”, Gottesdienste mit kleinen und großen Leuten und musikalisch geprägte. Freitags treffen sich insbesondere die Konfirmanden und etliche Eltern zum sogenannten “Friedensgebet”. Zielgruppenorientierte Gottesdienste (z.B. Motorradgottesdienste, Partnerschaftsgottesdienste, Tauferinnerungsgottesdienste) als Sonntagsgottesdienste, alternative Formen wie Dialogpredigten, Liedpredigten u.v.m. runden das Bild ab. Nach jedem Sonntagsgottesdienst gibt der “Kirchenkaffee” Gelegenheit zum kommunikativen Austausch.   

Dank- und Tankstelle für die Seele

Natürlich könnte auch bei unserem Konzept die Zahl der Gottesdienstbesucher höher ausfallen. Deswegen allerdings den Sonntagsgottesdienst zur Disposition zu stellen, käme niemandem in den Sinn. Denn für alle, die sich auf den Weg machen, ob regelmäßig oder (nur) zu besonderen Anlässen, für all diese Menschen ist bleibt der Gottesdienst, wie es unsere Prädikantin Petra Heidemann treffend ausdrückte, eine Dank- und Tankstelle für die Seele. Und vor allem, wenn sie kommen, kommen die Menschen gern. 

Kirche muss deshalb mehr sein als andere karitative Einrichtungen anbieten, wie gut und professionell auch immer KiTas, Pflegeeinrichtungen, Beratungsstellen für soziale Hilfen etc. auch arbeiten. Häufig werden diese Einrichtungen nicht anders wahrgenommen als staatliche Einrichtungen. Den Unterschied macht die zentrale Verwurzelung in der gottesdienstlichen Verkündigung und in der Darreichung der Sakramente. Zu diesem Rahmen gehört auch die Musik, denn sie ist eine Sprache, die keine Worte braucht, um Menschen aller Kulturen direkt zu erreichen und um Inhalte zu transferieren, die nicht in Worte gefasst werden können.

Kirche muss auch mehr sein als ein traditionell-festliches Beiwerk für Familienfeiern. Wenn wir uns anlässlich einer Taufe, einer Konfirmation, einer Trauung und auch anlässlich einer Beerdigung zu einem Gottesdienst treffen, dann ist dies der Ort des menschlichen und des Miteinanders mit Gott. “Wo zwei oder drei versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.”

Nicht zuletzt bietet Kirche den geschützten Raum des Zusammenkommens, um im seelsorgerlichen Gespräch alles auf den Tisch zu legen, was die Seele bedrückt. Wir dürfen fest darauf vertrauen, dass Gott uns immer wieder eine neue Chance geben will. So hat es Jesus ja selbst gesagt: “Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.” (Mt 11,28)

Ecclesia evangelica, quo vadis? (September bis November 2022)

zuerst erschienen in der Sprachrohrausgabe 226 (September bis November 2022)

Wenn ich auf die beiden vorhergehenden Posts und auf die Länge dieses Artikels schaue, dann muss 2022 so einiges losgewesen sein. 

Ecclesia evangelica, quo vadis

Bisher habe ich die Frage nach dem Weg der Evangelischen Kirche immer sehr kritisch gestellt und Schwachstellen aufgezeigt, die es in meinen Augen zuhauf gibt. Letztens stieß ich auf einen Abschnitt aus dem 1. Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth. Das, was der Apostel hier im 14. Kapitel sagt, kann in meinen Augen ein Weg sein, der unsere Evangelisch-lutherische Kirche aus der Krise führen könnte. Es ist die Rückbesinnung auf die Wurzeln christlichen Glaubens.

Gottes Gaben

In Korinth herrschte ein Wettstreit unter den Christen: Wer hat die größten Gaben Gottes empfangen? Oder man könnte auch fragen: Wer ist der Frömmste, wer lebt seinen Glauben authentisch? Paulus zählt auf, welche Gaben Gottes er in der Gemeinde erkennt: erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer, dann gab er die Kraft, Wunder zu tun, dann Gaben, gesund zu machen, zu helfen, zu leiten und mancherlei Zungenrede." (1 Kor 12,28)

Zungenrede ...

Während Paulus den Akzent offensichtlich auf Apostel, Propheten und Lehrer legt, haben die Korinther ein Faible für die Zungenrede. Was hat es damit auf sich? Im Online-Lexikon Wikipedia findet man folgende Erklärung: "Unter Zungenrede bzw. in Zungen reden [...] oder Sprachengebet versteht man unverständliches Sprechen, insbesondere im Gebet. [...] Die heutige Pfingstbewegung sieht in der Zungenrede eine Gebetsform, die die besondere Unmittelbarkeit des Betens zu Gott betont." (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Zungenrede)

Der Apostel Paulus kann solch einer Hochschätzung nicht folgen. Allerdings verschweigt er auch nicht, dass die Zungenrede eine Gabe des Heiligen Geistes ist. Sie hat dann in den Augen des Apostels folgenden Sinn:

Wer in Zungen redet,

  • der redet für Gott
  • der redet im Geist von Geheimnissen
  • der erbaut sich selbst

Die Zungenrede bedarf des verständigen Übersetzens, was wiederum eine Gabe des Geistes ist. (1 Kor 14,2.4.5)

... oder prophetische Rede?

Der Zungenrede setzt Paulus die prophetische Rede gegenüber und beschreibt auch gleich deren Wirkung. “Wer aber prophetisch redet, der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung." (1 Kor 14,3; Fettdruck Krüger)

Das prophetische Amt

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Propheten des Ersten Testaments. Prophet konnte man nicht aus eigenem Antrieb werden, zum Propheten wurde man von Gott berufen, manches Mal auch ausdrücklich gegen den eigenen Willen. “Der Löwe brüllt, wer sollte sich nicht fürchten? Gott der HERR redet, wer sollte nicht Prophet werden?" (Amos 3,8)

Wenn es darum geht, was “prophetische Rede” inhaltlich bedeutet, greife ich sinngemäß auf Formulierungen zurück, die ich bei Wikipedia gefunden habe und die in meinen Augen den Sachverhalt trefflich beschreiben:

Propheten, deren Sprüche gesammelt und später verschriftet wurden, traten etwa ab 750 v. Chr. auf. Sie richteten ihre Botschaften an das ganze Gottesvolk, auch wenn sie Einzelpersonen anreden. Die ersten Propheten hatten fast ausschließlich Unheil zu verkünden, nämlich den unvermeidlichen, von Gott beschlossenen Untergang Israels, das seine Aufgabe als Volk Gottes verleugnet und darum sein Existenzrecht verspielt habe. Später sahen die Propheten aber nach dem Untergang einen völligen Neuanfang Gottes mit seinem Volk heraufziehen. Dabei setzten alle Propheten voraus, dass Israel seine Aufgabe als Volk Gottes kannte, nämlich eine gerechte Gesellschaftsordnung zu schaffen und zu bewahren habe. Diesem Auftrag wird Israel nicht gerecht. Stattdessen erlebten die Propheten Ausbeutung und Enteignung der ehemals freien Landbevölkerung durch Großgrundbesitzer und auch durch den Königshof.

(vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Prophetie#Judentum und https://de.wikipedia.org/wiki/Prophetie_im_Tanach)

Der prophetische Auftrag

Damit sind schon an dieser Stelle die Begriffe genannt, die sich unmittelbar auf die Gegenwart beziehen lassen: eine gerechte Gesellschaftsordnung schaffen und bewahren, nicht aus sich selbst heraus, sondern vor dem Hintergrund des Ersten Gebots oder, wie es das Schma Jisrael" so eindrücklich sagt: „Höre, Israel, (hebräisch: schma jisrael, daher der Name - Anm. Krüger) der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, Deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all Deiner Kraft." (5 Mose 6,4f.)

Ausbeutung und Enteignung menschlicher und natürlicher Ressourcen lassen sich mit dem Glauben an den Gott Israels, den Vater Jesu Christi, nicht vereinbaren. Diese Botschaft zieht sich durch die ganze Bibel.

Man wird jetzt die Propheten der ersten Christengemeinden nicht direkt mit den Propheten des Ersten Testaments gleichsetzen können, aber auch sie haben für ihre Predigt in Anspruch genommen, das Wort Gottes als unbedingten Anspruch gemäß dem Ersten Gebot zu verkünden.

Kennzeichen christlicher Kirchen heute

Mit welchem Anspruch treten die christlichen Kirchen heute auf? Kritisch merke ich an, dass es in jeder kirchlichen Verlautbarung zwar heißt, das Evangelium werde gepredigt, aber das wichtigste Argument scheint dennoch vorrangig das Geld zu sein. “Wer soll, wer kann das bezahlen?" Unter vielen Beschlussvorlagen des Kirchenkreistags, der neuerdings “Kirchenkreissynode" heißt, findet sich die Notiz: “Finanzielle Auswirkungen...", aber es wird nicht gefragt und diskutiert, welche Auswirkungen solche Beschlüsse auf die Gemeinde Jesu Christi haben, auf die christliche Gemeinde vor Ort.

Zungenrede verwirrt

Zurück zu dem, was im Korintherbrief steht. “Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; [... ] Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in Zungen, es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht sagen, ihr seid von Sinnen?" (1 Kor 14,4.23)

Kirchliche Gemeindeaufbauprogramme

Wir reden nun nicht in Zungen wie die Korinther, sodass damit Außenstehende verwirrt und abgeschreckt würden, aber der Grundtenor insbesondere der evangelischen Kirche hier im Westen ist vielstimmig. Er könnte vielleicht harmonischer klingen, wenn es nicht wetteifernd darum ginge, das eigene Konzept als das Non plus Ultra herauszustellen und immer wieder eine neue Idee hinauszuposaunen.

Ich nenne nur ein paar Aspekte aus dem deutschsprachigen Raum, die mir im Lauf meines Berufslebens schon untergekommen sind, die den gegenwärtigen Mitgliederschwund aber auch nicht aufhalten konnten: 

  • missionarischer Gemeindeaufbau, projektorientierter Gemeindeaufbau,
  • früher orientierte man sich am Gemeinwesen, heute am Sozialraum,
  • Alpha-Kurse, Hauskreise wurden gefordert,
  • dann kam die Kirche der Freiheit" mit ihren Leuchttürmen und die Parole wurde ausgegeben: “Wachsen gegen den Trend" … Das Einzige, was gewachsen ist, sind die Austrittszahlen.
  • 2020 legte die EKD das Papier vor “Kirche auf gutem Grund …” aus den “Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche", an denen das hochrangig besetzte Z-Team jahrelang gearbeitet hatte - Z steht hier für Zukunft -, aus diesen elf Sätzen wurden in kürzester Zeit “Zwölf Leitsätze". 
  • Da in Corona-Zeiten manche Taufe verschoben wurde, sollen Familien aktiv angesprochen und niedrigschwellige Angebote - was auch immer das heißt - für Kinder und Erwachsene gemacht werden. Es sollen möglichst viele Menschen getauft werden, damit die Mitgliederzahlen stabil bleiben.
  • Die Hannoversche Landeskirche versucht, dem Mitgliederschwund besonders effektiv mit zwei Programmen zu begegnen - 
    • das eine entwickelt die Zukunft prozessgemäß (demgemäß heißt es „Zukunftsprozess"),
    • das andere "schiebt die Welle" (es heißt tatsächlich "Die Welle").

Ob Außenstehende - und Insider - immer erkennen, dass hier das Evangelium verkündigt werden soll, das wage ich zu bezweifeln. Die Redakteurin Stefanie Witte (NOZ) besuchte in Osnabrück eine Gesprächsrunde über die Zukunft der Evangelisch-lutherischen Kirche und berichtete in der Meppener Tagespost Anfang August von ihrer Teilnahme. Ihr Fazit war vernichtend: "Nach der Veranstaltung hatte ich nicht das Gefühl, dass die Protestanten [...] ihrem Ziel, nämlich am Bild einer Kirche der Zukunft zu arbeiten, näher gekommen sind." (Meppener Tagespost 04.08.2022, Seite 2)

Prophetische Rede wird argumentativ

"Wer prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde", so erklärt es Paulus im Brief an die Korinther. Wenn [...] alle prophetisch redeten und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, der würde von allen geprüft und von allen überführt; was in seinem Herzen verborgen ist, würde offenbar, und so würde er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter euch ist." (1 Kor 14,4.24 f.; Fettdruck Krüger)

Paulus beschreibt hier noch einmal die Kraft der prophetischen Rede. Sie dient, wie oben verdeutlicht, der Erbauung und Ermahnung und Tröstung. Jetzt kommt noch hinzu: Das prophetische Wort prüft und überführt und legt Fehlentwicklungen offen - so, wie es die Propheten des Ersten Testament machten. Sie klagten religiöse, aber auch soziale und wirtschaftliche Missstände im Namen Gottes an.

Das ist sicherlich für manchen ein schmerzlicher Prozess, aber Paulus ist überzeugt davon, dass das mahnende prophetische Wort die Gemeinde erbaut und tröstet. Denn genau dieses Wort zeigt uns das Fundament unseres Glaubens, unseres Lebens: Jesus Christus, Gottes fleischgewordenes Wort! “Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Christus Jesus!" (1 Kor 3,11)

Somit ist christlicher Glaube auch argumentativ. Er begründet seine Position allerdings nicht von der fiskalischen oder politischen Seite her, vielmehr bleibt Gottes Wort, bezeugt in der Heiligen Schrift, Grundlage aller Äußerungen.

Biblisch begründete Positionen überlässt die Kirche Randgruppen

Dieses prophetische Reden vermisse ich in unserer liberalen Kirche. Biblische Begründungen für eine kirchliche Stellungnahme höre ich selten. Ich habe wohl wahrgenommen, dass kirchliche Würdenträger - natürlich - den Krieg Russlands gegen die Ukraine verurteilen, aber oft reihen sich diese Stellungnahmen in das ein, was politisch auch schon gesagt wurde. Vermisst habe ich in den vergangenen zwei Jahren theologische Beiträge zur Corona-Situation, obwohl es die zuhauf gegeben haben soll. Offensichtlich kamen sie in der Öffentlichkeit nicht an. Die Stimme der Kirche ist eine unter vielen geworden. Die Kirche kann und vielleicht will sie auch keine Exklusivität beanspruchen.

Biblisch begründete Positionen überlassen wir oft Sekten, Fundamentalisten und Evangelikalen - hier tatsächlich im negativen Wortsinn gebraucht. Welche Auswüchse dies nach sich ziehen kann, erleben wir in der Abtreibungsdebatte in Amerika, ebenso in der Kriegspropaganda des Moskauer Patriarchen. Bedenkenlos und schamlos wird Gottes Wort für die eigenen Zwecke missbraucht. Kritiker des christlichen Glaubens sehen sich bestätigt und verurteilen unsere Religion in Bausch und Bogen.

Wer prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde...

... so sagt es Paulus, durch Tröstung und Ermahnung, wie wir es zuerst gehört haben. Hinzu kommt, dass das prophetische Wort prüft, ggf. auch überführt und offenlegt, wo etwas im Argen liegt. Die so Angesprochenen werden nicht immer auf ihr Angesicht fallen und Gott anbeten, wie es Paulus im Brief an die Korinther schreibt, aber sie werden erkennen, dass Gott unter uns ist.

Despoten wie Wladimir Putin wird man mit diesem Ansatz nicht beeindrucken können. Aber dass mit solch einem Konzept Menschen guten Willens erreicht werden, dass die Kirchen wieder Strahlkraft entwickeln können, dass auf diesem Fundament Ideen entstehen, mit denen man dann die Welt und die Kirche neu gestalten kann, davon bin ich überzeugt. “Bemüht Euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen Rede!" (1 Kor 14,1)

1 Kor 14,1-6.23.24 Strebt nach der Liebe

(1) Bemüht Euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber um die Gabe der prophetischen Rede! (2) Denn wer in Zungen redet, der redet nicht für Menschen, sondern für Gott; denn niemand versteht ihn, vielmehr redet er im Geist von Geheimnissen. (3) Wer aber prophetisch redet, der redet den Men- schen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung.

(4) Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde. (5) Ich wollte, dass Ihr alle in Zungen reden könntet; aber noch viel mehr, dass Ihr prophetisch reden könntet. Denn wer prophetisch redet, ist größer als der, der in Zungen redet; es sei denn, er legt es auch aus, damit die Gemeinde dadurch erbaut werde.

(6) Nun aber, liebe Schwestern und Brüder, [...] (23) wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in Zungen, es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht sagen, Ihr seid von Sinnen?

(24) Wenn sie aber alle prophetisch redeten und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger hinein, der würde von allen geprüft und von allen überführt; (25) was in seinem Herzen verborgen ist, würde offenbar, und so würde er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten und bekennen, dass Gott wahrhaftig unter Euch ist.

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In der Sprachrohrausgabe 226 kam auch Petra Heidemann, Prädikantin in der Gustav-Adolf-Kirchengemeinde, zu Wort. Sie nahm den bereits erwähnten Artikel von Stefanie Witte auf und kommentierte ihn. 

Die beiden von ihr verfassten Gedichte sind hier mit ihrer freundlichen Genehmigung wiedergegeben.

"Warum der evangelischen Kirche Nachwuchs fehlt - und was sie dagegen tut"

So lautete die Überschrift eines Beitrags von Stefanie Witte in der Meppener Tagespost online am 05.08.2022

Um nicht nur nachvollziehen, sondern auch herausfinden zu können, wie kirchliche Institutionen mit Veränderungen umgehen, wie diese Mitglieder halten und gewinnen wollen, wie sie sich die Zukunft ihrer Kirche vorstellen, begab sich die Kolumnistin Stefanie Witte zu einem diesbezüglichen Treffen von rund 200 evangelischen Kirchenangestellten, also Pfarrern, Kirchenmusikern und Diakonen in Osnabrück.

Dort nahm sie an einer sog. "Open Space"-Veranstaltung teil, eine Methode, die sie nach dieser Erfahrung so charakterisiert: "Wenn man keine Lust mehr hat, in einem Stuhlkreis zu diskutieren, darf man gehen, Kaffee trinken und Kuchen essen. Dann ist man aber per definitionem genauso wertvoll wie die Leute, die sitzen bleiben, weil sich ja auch beim Kuchenessen kreative Ideen ergeben können."

Witte entschied sich zunächst für den Stuhlkreis "Nachwuchs finden", weil ihr dieser lebensbezogener erschien als so manch anderes der zwölf Angebote, z.B. "doppelt strategisch missionieren", "Verkündigung ohne Worte" oder "Kasualagentur". Allerdings schildert sie ihren Eindruck, hier tage "eher eine Arbeitnehmer-Selbsthilfegruppe als ein Kreis, der Nachwuchs finden möchte", denn das Gespräch sei bestimmt gewesen von Personalproblematik, wie Aufstiegschancen, Halbtagsstellen, unbezahlte Überstunden und Heranschaffen von digitalem Dienstequipment. Die Nachwuchsfrage sei nur dann in den Blickpunkt gerückt, als ein Pastor von einer Beerdigung berichtet habe, bei der ein Schüler gar nicht gewusst habe, was ein Pastor sei.

In einem weiteren besuchten Arbeitskreis sei es um "queere Themen gegangen, konkret über queersensible Konfi-Arbeit", hier habe man sich an der Frage des Umgangs mit einem homophoben Pastor festgebissen und daran, was kirchenrechtlich zu denken erlaubt sei.

Witte bezweifelt, dass dies Kernfragen seien, wenn es um die Zukunft der Kirche gehe. Jugendliche, die nicht wüssten, was ein Pastor sei, seien ein Alarmzeichen. Witte kann in dieser Tagung keinen Schritt vorwärts in Richtung Zukunftsbild sehen. Es gebe zwar eine Vielzahl von Gremien in der EKD, viele Gesprächskreise, Zukunftswerkstätten, Überlegungen, Pläne, allerdings sei ihr auch zu Ohren gekommen, dass viele Pfarrer "an solchen Prozessen bewusst schon gar nicht mehr teilnähmen, weil sich sowieso immer dieselben Kollegen mit denselben Botschaften hervortäten".

Witte resümiert, dass die Erkenntnisse dieser Veranstaltung nicht “sonderlich vielversprechend" seien, und konstatiert: "Eine Kirche, die sich gedanklich darauf einstellt, künftig als Dienstleister nur noch für die zwei, drei wesentlichen Anlässe im Leben buchbar zu sein - das erscheint mir nicht als tragfähiges Zukunftsszenario."

Zusammenfassung: Petra Heidemann 

Quelle: Meppener Tagespost online vom 05.08.2022

Kontrastprogramm

Man sollte
aufgeschlossener sein
und die Nachbarschaft pflegen, sagte sie,
warf einen Blick nach draußen und ließ die Jalousie herunter.

Man sollte
viel natürlicher leben, sagte er
und achtete darauf,
beim Jäten kein Un-Kraut zu übersehen.

Man sollte
zeitiger schlafen gehen, schrieb ich
nachts um halb zwei auf meinen Notizblock.

Man sollte
einfach netter sein;
dabei war ich
sogar auf mich selbst sauer.

Man sollte
sich bescheiden lernen, 
sagtest Du
und kauftest dabei die Großpackung als Super-Sonderangebot.

Man sollte,
jeder wollte,
wenn er könnte -
oder könnte,
wenn er wollte ?

Aber
dann müssten
wir
etwas tun
gegen unsere
chronische Konjunktivitis.

Petra Heidemann

Beschämend und aufrüttelnd

Kommentar zum Artikel der Meppener Tagespost

Das Thema "Beständig schwindende Zahl der Kirchenmitglieder", egal welcher Konfession, geistert inzwischen immer lauter durch die Medien, genau wie die Skandale kirchlicher Institutionen. Und wie bei so vielen an sich zum Himmel schreienden Zuständen und Bedrohungen und Entwicklungen in unserem Umfeld wie in unserer Welt - je häufiger davon die Rede ist, desto weniger hört man noch hin, man überhört die Meldungen, weil man sich diese inzwischen übergehört hat, zuckt die Achseln, da "man selbst ja doch nichts ändern" könne, gewöhnt sich allmählich daran.

Als ich nun aber über die Zeitungskolumne von Stefanie Witte stolperte, verschlug es mir erst einmal die Sprache - wer mich kennt, nicht für lange. Denn dieser Artikel schreit geradezu nach Kommentar, schreit vor allem nach Konsequenzen, und zwar nicht irgendwann, sondern schnellstmöglich. Witte legt genau den Finger in die Wunde und bringt ans Tages(post)licht, was da wenig effektiv in wohlklingenden Formulierungen "gelayoutet" vor sich hin schwelt, obwohl es längst lichterloh brennt.

Gebraucht wird nicht ein systemimmanentes pseudoaktives Herumbasteln an Scheinaktivitäten als uneffektive Politur, nicht die Beschäftigung mit Interna, mit dem institutionellen Selbst. Wer Menschen für sich gewinnen will, muss zu den Menschen gehen. So haben es übrigens die Propheten gehandhabt, so hat es Jesus unablässig gehandhabt, so haben es die Apostel unbeirrt gehandhabt. Und genau da gilt es, sich einzureihen.

Vor Ort bei den Menschen ist zu eruieren und anzusetzen, hier kann sich Kirche gespiegelt wahrnehmen, nicht im Burgturm einer verwalterischen, juristischen, finanzbestimmten Institution. Es braucht vielmehr einer flächendeckenden, die Menschen direkt ansprechenden Kontaktsuche. Politischer Wahlkampf macht es uns vor - Info-Stände und Befragungen dort, wo sich Menschen im öffentlichen Raum bewegen, motivierende Fragebögen an alle Haushalte mit der herzlichen Bitte um Rücklauf, da man nur dann für die Basis etwas verändern könne, wenn man der Basis zuhöre.

Und so wird Kirche erfahren, warum Menschen austreten oder gar nicht erst eintreten, welche Rolle Kirche im Alltag des Einzelnen spielt, wo die Enttäuschungen liegen, wo auf kirchliche Angebote eingegangen wird, wo man Kirche zu schätzen weiß, was man von Kirche überhaupt weiß, was man von Kirche erhofft und erwartet.

Kirche ist nur da Kirche, lebt nur da ihren Auftrag, wo sie “in persona" Kirche vor Ort ist, also ganz bei den Menschen - als Partner wahrnehmbar, spürbar, (be)greifbar, verlässlich, lebendig, aktuell. Nur dann ist sie glaubwürdig, nur dann hat sie ein tragfähiges Lebenskonzept zu bieten. Nur wenn sie sich hinterfragen lässt, wird sie auch wieder gefragt sein.

Kirche als Gesamtheit der Christen ist ein erhabener Begriff, aber abstrakt. Kirche vor Ort muss konkret sein, zum Anfassen.

Petra Heidemann

Lebendige Kirche

Zeichnung Petra Heidemann

Kirche als Institution ist notwendig, aber abstrakt. Kirche als Gesamtheit der Christen ist ein erhabener Begriff, aber abstrakt. Kirche vor Ort muss konkret sein, zum Anfassen. 

Kirche braucht also ein Bild, ein Profil, um gesehen zu werden, um Partner zu sein, um im Jetzt und Hier wahrnehmbar zu sein. Mit einem Baum als Bild ließe sich für das Wesen und den Auftrag der Kirche in allen drei Dimensionen etwas anfangen.

Die Kirche als sturmerprobter Baum wurzelt fest im Alten Testament, ist bis heute Stimme der Propheten, die sich einmischen, in das, was da auch heute geschieht oder eben nicht geschieht. Daran muss Kirche sich messen.

Aus dieser Wurzel Jesse spross in Jesus der Stamm hervor, geradlinig nach oben weisend, der Träger alles Weiteren, im biblischen Bild der Weinstock. Jesus hat für einen Augenblick der Weltgeschichte exemplarisch vorgelebt, was ein Mensch sein sollte, als was ihn die Schöpfung gedacht hat. Er war ganz bei den Menschen, konkret, greifbar, angreifbar, stark und verletzlich, aber unumstößlich wie der Stamm des Kreuzes.

Aus dem Stamm entwickeln sich Geäst und Gezweig. Die Jünger, die Apostel, die Gemeinden nahmen ihre Aufgabe an, selbst unter lebensbedrohlichen Umständen. Und das Christentum blühte auf und trug Früchte und streute Samen.

An uns allen als Kirche ist es nun, dieses Bild zu verinnerlichen und dafür zu sorgen, dass die Saat aufgeht an jeder noch so kleinen Stelle.

An der Institution Kirche ist es, sich Wurzel, Stamm und Krone zu eigen und nach außen lebendig werden zu lassen, Altes und Neues Testament konkret werden zu lassen und darauf basierend ihren, Jesu Auftrag in unserem Alltag zu erfüllen.

Denn Jesu Glauben gründet sich im Alten Testament, sein Wirken konkretisiert dieses, und die, die ihm folgen, sollen ihn in die Welt tragen. Anders gesagt, so wie Wurzel, Stamm und Krone ein Ganzes sind, so Gott, Jesus Christus und Heiliger Geist. Das sei Anliegen der Kirche in allen Dimensionen.

Petra Heidemann

Quelle: Petra Heidemann, Zwischen-durch-Gedanken, Meppen 1983

Mittwoch, 30. Juli 2025

Ecclesia evangelica, quo vadis? (Juli bis September 2022)

zuerst erschienen in der Sprachrohrausgabe 225 (Juli bis September 2022)

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Quo vadis ecclesia evangelica?

Oder: Warum treten Protestanten aus der Evangelischen Kirche aus?

Diese interessante Frage stellte Hubert Wolf, katholischer Kirchenhistoriker an der Universität Münster, in einem kurzen Begleitvideo zur Sendung des Aspekte-Magazins ,,Wozu brauchen wir die Kirche?" vom 03. Juni 2022. (1) Es war schon interessant, dass sich die Sendung fast ausschließlich mit der katholischen Kirche beschäftigte. Die evangelische kam nur am Rande vor.

Die Kirchen stehen für Werte

Hubert Wolf erklärte, dass die Kirche - er meinte die katholische; ich nehme das aber selbstverständlich auch für unsere evangelische Kirche in Anspruch - für Werte stünde, die sich der Staat nicht selber schaffen kann. Diese Werte seien, so Wolf, von grundlegende Bedeutung und die Basis, auf die der Staat aufbaue.

Da Wolf keine Werte nennt, habe ich selber ein wenig überlegt und gesucht - Stichwort: Werte der Gesellschaft. Dr. Andreas Lenz, MdB, zählt "Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit, Sicherheit, Wertschätzung, Toleranz, Verantwortung oder Leistung" als Konstanten auf. (2)

Die weitere Internetrecherche ergibt, dass im Zusammenhang mit dem 50. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen im Jahr 1997 die "Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten" durch eine Initiative des Inter-Action Council veröffentlicht wurde. In 19 Artikeln wird menschenfreundliches Handeln genauer behandelt. (3)

Vier Jahre zuvor hatten sich im Herbst 1993 in Chicago Vertreter vieler verschiedener Religionen zum "Weltparlament der Religionen" getroffen. Initiator dieser Begegnung war der Theologe Hans Küng. In einer "Erklärung zum Weltethos" einigten sich die Religionsvertreter auf vier Weisungen (Du sollst nicht töten, stehlen, lügen und Unzucht treiben), die in den Leitsätzen formuliert wurden:

  • Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben,
  • Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung,
  • Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit, 
  • Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau. (4)
Weitere interessante und wegweisende Artikel lassen sich schnell finden.

Wenn es so einfach ist, Werte zu beschreiben, denen doch im Grunde jeder zustimmen muss und die sich auch in der Bibel finden, also zumindest für Juden und Christen verbindlich sind, dann fragt man sich schon, warum es in der Welt dieses Chaos gibt, warum es so weit gekommen ist, dass eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes für die Welt nicht mehr reine Spekulation ist.

Das Dreifachgebot der Liebe

Jesus wurde einmal gefragt, was für ihn das wichtigste Gebot sei. Er antwortete im zweiten Teil so, wie wir es in den vorherigen Abschnitten sinngemäß auch lesen können: "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst." Damit greift er auf einen Vers aus dem Ersten Testament zurück, den man so wortwörtlich im 3. Buch Mose Kapitel 19 Vers 18 findet. Hier endet der Satz mit der göttlichen Deklaration: "Ich bin der HERR!" Genau diese Aussage stellt Jesus der humanitären Forderung nach der Nächstenliebe als Gebot voran: "Höre, Israel" -, und ich ergänze: Höre, Christenheit, "der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und Du sollst den Herrn, Deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all Deiner Kraft".

Auch diese Worte stammen nicht originär von Jesus. Sie sind als das „Schma Jisrael", als das Bekenntnis Israels im 5. Buch Mose Kapitel 6 Verse 4 - 5 zu finden.

Wenn die Kirchen für Werte stehen, die sich der Staat nicht selber schaffen kann, dann können diese Werte im christlichen Kontext nur im Sinn Jesu, und tatsächlich auch nur in der von ihm genannten Reihenfolge, verkündigt werden: Gott lieben und dann Deinen Nächsten wie Dich selbst! Die Liebe zu sich selbst und zum Nächsten kann sich selbstlos nur entfalten, wenn sie sich eingebettet weiß in die Liebe zu Gott und getragen durch Gottes Liebe.

Damit leben Christen in dem Bewusstsein,  dass sie ihr Leben nicht sich selbst oder dem Zufall verdanken. Vielmehr ist es der Wille Gottes, dass es jeden einzelnen Menschen gibt und dass er uns diese Welt als Lebensraum, den wir pfleglich nutzen dürfen, zur Verfügung gestellt hat.

Eigentlich müsste jeder vernunftbegabte Mensch den oben beschriebenen Werten, die das menschliche Miteinander ermöglichen, zustimmen. Denn wenn die für den anderen nicht gelten, ist ja auch die eigene Existenz gefährdet. Warum sollte der andere meine Rechte achten, wenn ich das umgekehrt nicht für nötig erachte? Trotzdem steht die ganze Welt vor Problemen, die kaum zu bewältigen sind.

Christlicher Auftrag

Christliche Verkündigung kann da auf ein anderes Fundament aufbauen: Jesus Christus! Einen anderen Grund kann niemand legen, so sagt es Paulus. Christus hat uns mit seinem Tod am Kreuz von Golgatha gezeigt, wohin ein gottloses Leben führt - Leben ohne Gott, wo nur die Macht und der eigene Wille zählt: In den Tod. Mit der Auferweckung Jesu von den Toten hat Gott gezeigt, dass er diesen Tod für seine Menschen nicht will.

Reform um der Reform willen ist nicht der Weg

Zurück zu der Frage von Hubert Wolf: "Warum treten Protestanten aus der Evangelischen Kirche aus?" Er verweist darauf, dass bei den Protestanten doch eigentlich alles zu finden ist, was katholische Reformer sich wünschen: Synodale Mitverantwortung, Bischofswahl, Frauen im Pfarramt, kein Zölibat und anderes mehr.

Wolf macht deutlich, dass jede Reform das Ziel haben muss, die Verkündigung des Evangelium zu ermöglichen, auf Jesus Christus hinzuweisen. Eine Reform um der Reform willen bringt keine Kirche auch nur einen Schritt weiter. Ob dieser Gedanke die "Reformer" in der Evangelischen Kirche leitet, das stelle ich nach meinen Beobachtungen und Erfahrungen bewusst in Frage.

Wie aber wollen die Kirchen sich in Zukunft aufstellen, um Menschen zu gewinnen? Ich gehe hier nur auf das ein, was ich in der Evangelischen Kirche wahrnehme.

Best Practice

Auf der einen Seite werden immer wieder Beispiele genannt, wo sich Kirchen oder kirchliche Mitarbeiter wunderbar in der Öffentlichkeit präsentieren können - "Best Practice" ist der moderne Begriff. Die Sendung "Aspekte" erzählt von der Hamburger Pastorin Josephine Teske, die ihr Leben mit Pfarramt und Kindern auf Instagram mit rund 35.000 Follower teilt. Sie feiert Andachten und ihre Kochkünste. "Was sie macht, macht Phine mit Leidenschaft: predigen, hadern und hoffen, trauern und tanzen", so ist es auf der Internetseite "Yeet" zu lesen.

Im "Stadt-Anzeiger West" vom 23.06.2022, Teil der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, kann man lesen, dass Landesbischof Ralf Meister die Gemeinde Johannes-der-Täufer in Wettbergen überschwänglich lobt: "Diese Kirche ist ein Vorbild". Die überaus erfolgreiche Gemeindearbeit geht auf das Engagement des ehemaligen Pastors Schwarz zurück, unter dessen Ägide u.a. der Kinderzirkus "Giovanni" gegründet wurde. Diese Arbeit konnte erfolgreich weitergeführt werden.

Ganz automatisch fragt man sich: Ist das die Zukunft der Kirche? Für einzelne Kirchengemeinde sicherlich. Wenn man Josephine Teske im Video zuhört, spürt man, dass Sie auf diese Weise gern ihren Glauben teilt. Arbeit mit Kindern wie in Wettbergen begeistert immer. Aber nicht jeder will sein (Privat)Leben in den sozialen Netzwerken öffentlich teilen. Und die Leitung eines Zirkus' gehört nicht zum allgemeine Ausbildungsprogramm der Kirchen.

Stellenabbau

Ich nehme in der Evangelischen Kirche noch einen anderen Trend wahr. Landauf, landab ist von der zwingenden Notwendigkeit zu finanziellen Einsparungen die Rede. Obwohl die Kirchensteuereinnahmen stetig gestiegen sind, klagt die Hannoversche Landeskirche seit Mitte der 1980er Jahre, dass das Geld weniger werde. Begründet wird dies mit der hohen Zahl der Kirchenaustritte.

Wenn gespart werden muss, kann dies am einfachsten im Personalbereich geschehen - wie auch sonst in der Wirtschaft üblich. Da wesentlich mehr Pastorinnen und Pastoren in den Ruhestand gehen als nachrücken - das Verhältnis lag zuletzt ungefähr bei 100:30 -, fällt es den Kirchenkreistagen, die seit kurzem Kirchenkreissynode heißen, nicht schwer, Pfarrstellen aufzugeben. Da die Arbeit nicht weniger wird, wird sie auf die noch vorhandenen Schultern verteilt. Das führt dann bei den Pfarrstelleninhabern zu Abgrenzversuchen, die wiederum die Gemeindeglieder zu spüren bekommen. Eine fatale Entwicklung.

Kirche vor Ort

Der einzige Weg aus dieser Krise ist in meinen Augen die Rückbesinnung auf den eigentlichen Auftrag der Kirche: Verkündigung des Evangeliums in der Kirchengemeinde vor Ort - mit allen Facetten, die möglich sind. Hier fühlen sich Menschen mit "ihrer" Kirche verbunden, Sie sind bereit, Kirchensteuern zu zahlen, und sie engagieren sich ehrenamtlich. So habe ich es bei meinem Besuch in meiner ersten Kirchengemeinde erlebt. Eine junge Mannschaft hatte ein wunderbares Gemeindefest organisiert. Allerdings werden Gemeindeglieder in Zukunft sehr genau beobachten, wofür die Kirchensteuer eingesetzt wird.

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Anmerkungen: 

1 https://mediathekviewweb.de/#query=Aspekte Mit diesem Link kann die ganze Sendung und das kürzere Begleitvideo aufgerufen werden.

2 https://www.andreas-lenz.info/blog/blog-werte/werte-unserer-gesellschaft-welche-werte-halten-uns-zusammen.html

3 https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine_Erkl%C3%A4rung_der_Menschenpflichten

4 https://de.wikipedia.org/wiki/Weltethos

5 https://yeet.evangelisch.de/personen/josephine-teske

Ecclesia evangelica, quo vadis? (April bis Mai 2022)

zuerst erschienen in der Sprachrohrausgabe 224 (April bis Mai 2022)

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Es ist schon einige Zeit her, dass ich hier im Sprachrohr (Gemeindebrief der Ev.-luth. Gustav-Adolf-Kirche zu Meppen) die Frage aufgeworfen habe, wohin die Evangelische Kirche eigentlich treibt. Jetzt stellt sich die Frage wieder. In der ersten Märzhälfte veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die neuesten Mitglieder- bzw. Austrittszahlen. Sie tat dies nicht wie üblich in Koordination mit der Katholischen Kirche, die die Zahlen erst - wie auch in den vergangenen Jahren - im Sommer bekannt geben wird. Vielleicht wollte man verhindern, in einem Abwärtsstrudel mitgerissen zu werden.

Unzufriedenheit mit der Institution Kirche

2021 wurden 280.000 Austritte aus der Evangelischen Kirche in Deutschland registriert. Dieser Wert wurde bisher nur in den Jahren 1992 (knapp 360.000) und 1995 (knapp 300.000) übertroffen (1). Bemerkenswert ist, dass 51,9% der 55.521 Personen, die sich bei einer Umfrage auf der sicherlich kirchenkritischen Seite kirchenaustritt.de beteiligten, für das Jahr 2021 als Austrittsgrund "Unzufriedenheit mit der Institution Kirche" angaben. Da bei dieser Frage nicht zwischen den Konfessionen unterschieden wird, kann es natürlich sein, dass das Votum ehemaliger Katholiken diesen Wert nach oben treibt. Wegen der Kirchensteuer traten 30,9% der Befragten aus. Bis 2020 wurden die Kirchensteuern immer als erster Grund für den Kirchenaustritt angeführt (vgl. die eingefügte Grafik, die auf Zahlen der Internetseite kirchenaustritt.de zurückgreift (2)).

Gott und der Kirchenaustritt

Die EKD-Ratsvorsitzende Bischöfin Annette Kurschuss meint im Blick auf die neueste Entwicklung, man werde "sinkende Mitgliederzahlen und anhaltend hohe Austrittszahlen nicht als gottgegeben hinnehmen". (3)

Dieser Satz irritiert mich zugegebenermaßen. Nähme ich die Formulierung wortwörtlich, so hieße das, die Austrittszahlen wären "von Gott gegeben", die Bischöfin wolle das aber nicht hinnehmen. Das wollte Frau Kurschuss sicherlich nicht sagen, aber "schicksalhaft", "unvermeidbar", "zwingend" oder "zwangsläufig" wären sicherlich die besseren Begriffe gewesen.

Abbruch des Glaubens

Das Sozialwissenschaftliche Institut (SI) der EKD (4) nannte neben anderen auf den ersten drei Positionen diese Austrittsgründe:

  • Kaum religiöse Orientierung in der Familie
  • Positive Berührungspunkte mit Kirche im Jugendalter, aber Bedeutungsverlust der Kirche beim Eintritt ins Erwachsenenalter
  • Zunehmende Zweifel durch Verfehlungen der Kirche und mangelnde Differenzierung zwischen den Kirchen

Profil der evangelischen Kirche

Schon seit einiger Zeit frage ich nach dem Profil der Evangelischen Kirche. Wie nehmen uns Menschen wahr? Was unterscheidet uns von anderen öffentlichen Organisationen? Was bewegt Menschen, Mitglied einer Evangelischen Landeskirche zu werden oder zu bleiben? Letztendlich: Wie reden wir von Gott?

Das Sozialwissenschaftliche Institut stellte in der ausführlichen Dokumentation zu den Austrittsgründen fest, dass die Evangelische Kirche in der Öffentlichkeit "nur sehr verschwommen wahrgenommen" werde und in den "vergangenen Jahren so gut wie nicht in Erscheinung trat". (5)

Kirchenreformen

Offensichtlich ist man in den Evangelischen Kirchen auf der Suche nach einem Profil. Auf allen kirchlichen Ebenen werden Reformprozesse angestoßen, und der Umbau der Evangelischen Kirche, mit welchem Ziel eigentlich, soll vorangetrieben werden. (6) Ob die 2020 von der EKD verabschiedeten „Zwölf Leitsätze" zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche "Hinaus ins Weite - Kirche auf gutem Grund" noch eine Rolle spielen, lässt sich nicht erkennen. In der Hannoverschen Landeskirche gibt es dann auch gleich zwei Prozesse, die die Kirche in eine erfolgreiche Zukunft führen sollen: "Wir reiten die Welle" und "Zukunftsprozess".

Confession Augustana - Artikel 7 - Von der Kirche

"Es wird ... gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. ..." 1530 gaben die lutherischen Reformatoren vor dem Kaiser und dem Reichstag in Augsburg dieses klare Bekenntnis, wie Lutherische Kirche zu verstehen ist: als "Versammlung aller Gläubigen", wo das "Evangelium ... gepredigt" und die "heiligen Sakramente ... gereicht werden". Bis heute ist dieses Bekenntnis in der Lutherischen Kirche gültig. Alle, die in der Kirche mitarbeiten, werden darauf verpflichtet. Das Bekenntnis ist auf den Seiten der EKD zu finden!?

Das Evangelium predigen...

Die "Predigt des Evangeliums" - wie auch das Spenden der Sakramente - geschieht im sonntäglichen Gottesdienst, der uns Woche für Woche an das Zentrum unseres Glaubens, an die Auferstehung Jesu Christi von den Toten erinnert. Den Teilnehmenden wird die Liebe Gottes zugesprochen, aber es wird auch Gottes mahnendes Wort verkündet, das Leben an seinem Gebot auszurichten - im privaten Leben wie in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Wo diese Botschaft verachtet wurde, da kennt die Bibel - aber auch die Geschichte - warnende Beispiele, dass Menschen sich durch ihr egoistisches Handeln selbst zugrunde richteten.

Es wäre den Versuch wert, der Intention des Bekenntnisses von 1530 erneut Raum zu geben und dadurch ein eindeutiges Profil zu gewinnen, das die Evangelische Kirche von anderen - durchaus gesellschaftlich wichtigen - Organisationen und Institutionen unterscheidet. Auch schon 1.000 Jahre früher machte Benedikt von Nursia (480 bis 547) deutlich, wo er das Zentrum christlichen Lebens sah: "Dem Gottesdienst ist nichts vorzuziehen." Veränderungen und Erneuerungen sind dabei wünschenswert. Optionen gibt es genug: Musik, Liedauswahl, Kommunikationsformen, Aktionen u.v.a.m.

So bleibt am Ende weiterhin die spannende Frage:

Ecclesia evangelica - quo vadis?

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Anmerkungen: 

1 https://www.kirchenaustritt.de/nachrichten/evangelische-kirche-kirchenaustritte-auf-rekordniveau

2 vgl. dazu die Zahlen auf der Seite https://www.kirchenaustritt.de/nachrichten/umfrageergebnis2021

3 https://www.ekd.de/ekd-veroeffentlicht-mitgliederzahlen-2021-71959.htm

4 https://www.siekd.de/portfolio/kirchenaustritte/

5 https://www.siekd.de/wp-content/uploads/2022/03/2021_SI-Studie_Endewardt_Qualitative-Studie-zur-Ermittlung-der-Gruende-fuer-den-Austritt-aus-der-evangelischen-Kirche.pdf

6 Die Präses der EKD-Synode Anna-Nicole Heinrich: "Die Ergebnisse der Studie bestärken uns, umso unverzagter an unseren Reformen und dem Umbau der Kirche weiterzuarbeiten." - Verheißung oder Drohung, so fragt sich Henryk M Broder in der in der Onlineausgabe „Welt“ https://www.welt.de/debatte/kommentare/article237430309/Kirchenaustritte-EKD-sendet-das-fatale-Signal-es-gebe-Wichtigeres.html

7 https://www.ekd.de/Augsburger-Bekenntnis-Confessio-Augustana-13450.htm

8 Es ist höchst bedauerlich, dass von kirchenleitender Seite seit Jahren die Bedeutung dieses Kernstück christlichen Lebens heruntergespielt wird. So auch im aktuellen Aktenstück 25B der 26. Hannoverschen Synode: "Dem erfreulich guten Zuspruch zu Gottesdiensten, die zu besonderen Anlässen gefeiert oder in neuer Form gestaltet werden, steht eine zurückgehende Resonanz auf die herkömmlichen gottesdienstlichen und spirituellen Angebote der Kirche gegenüber. Deren Prägekraft in der Gesell- schaft nimmt ab." (https://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/wir-ueber-uns/landessynode/Aktenstuecksammlungen/aktenstuecksammlung_26LS)

500 Jahre Reichstag zu Worms - Predigt

Predigt am Sonntag Jubilate – 25.04.2021

Am 18.04.2021 hätte die evangelische Kirche daran erinnern können, dass vor genau 500 Jahren Martin Luther sich auf dem Reichstag zu Worms weigerte, seine Schriften zu widerrufen. Aus was für Gründen auch immer ging dieses Ereignis mehr oder weniger unter. Dabei ist Luthers Position durchaus geeignet, Impulse für die gegenwärtig anstehenden Diskussionen zu geben, nicht allein im Raum der Kirche, sondern auch in der politischen Debatte: 

„… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“ (Dt. Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Band II, n. 80, S. 581–582; zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_...)

Da ich am 18.04. selbst nicht predigte, nahm ich das Thema am 25.04. auf. Gleichzeitig komme ich in der Predigt auf das Schweigen der großen Kirchen in der gegenwärtigen Coronakrise zu sprechen. Als Predigttest habe ich den Marginaltext Jesaja 43,14-21 gewählt.

Predigt und Gottesdienst können auf meinem YouTube-Kanal angesehen werden. 

https://youtu.be/K1seFno9cS0?si=Vfg83v-6Oq_gJoD5&t=854

Der Link verweist auf den Anfang der Predigt.

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Transkript von YouTube

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Der Friede Gottes und die Liebe unseres Herrn und Heiland Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns alle. Amen 

"Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen."

Dieser Martin Luther zugeschriebene Satz, liebe Gemeinde, war zumindest einmal hier bei uns in Deutschland der evangelisch-lutherischen Kirche wohl bekannt. Jeder hätte sofort erklärt: Das hat Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms gesprochen. Er war vor den Kaiser und die kirchlichen Vertreter zitiert worden, weil er seine Schriften widerrufen sollte.

Wissen Sie, wann das war? - Das wissen die wenigsten. Das war am 18. April 1521, also letzten Sonntag vor genau 500 Jahren. Luther hatte diesen Satz so nicht gesagt auf dem Reichstag. Heute würden wir sagen: Die Pressestelle, die Öffentlichkeitsarbeitsstelle in Wittenberg, hatte diesen Satz in seine Rede eingeschoben, weil er so markig klang. 

Ich lese einmal vor, was er gesagt hat: “Wenn ich nicht durch Zeugnis der Schrift und klare Vernunftgründen widerlegt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien alleine glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in Gottes Wort. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil gegen das Gewissen etwas zu tun, weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir. Amen.” 

“Zeugnis der Schrift” und “klare Gründe der Vernunft”

Durch das “Zeugnis der Schrift” und durch “klare Gründe der Vernunft”, das war Luthers Basis, auf der er seine Schriften verfasst hatte. Und das war die Basis, auf der er mit Kaiser und kirchlichen Vertretern diskutieren wollte. Aber die wollten es nicht!

Das macht die Antwort des Kaisers sehr deutlich. Er beruft sich darauf, dass er aus einem christlichen Hause kommt und dass die Lehren doch seit hunderten von Jahren und anderthalbtausend Jahren Bestand haben. Und er schreibt: “Es ist sicher, dass ein einzelner Bruder in seiner Meinung irrt, wenn dieser gegen die ganze Christenheit steht, wie sie seit mehr als 1000 Jahren und heute gelehrt wird, denn sonst hätte sich die ganze Christenheit heute und immer geirrt.” Das war die Antwort des Kaisers, die auch gleichzeitig für die kirchlichen Vertreter aus Rom stand, natürlich. 

Offensichtlich hat er sich geirrt, haben die sich geirrt, denn sonst wären wir nicht heute hier und würden diesen Gottesdienst feiern.

Doch auf das, was Luther sagte, “Zeugnis der Schrift”, “klare Vernunftgründe”, konnte und wollte man damals offensichtlich überhaupt nicht eingehen, man verweigerte das Gespräch. 

Ausgefallen - 500 Jahre Worms

Ich gebe zu, dass es mir völlig unverständlich ist, warum dieses Ereignis bei uns in der evangelischen Kirche so sang- und klanglos letztes Wochenende, überhaupt die Zeit davor, untergegangen ist. Haben Sie etwas gehört? (Zwischenruf: In Worms!) - Ja, die in Worms haben noch was gemacht, aber das wars dann auch. Haben Sie etwas von unserer Kirchenleitung gehört in Hannover? Haben Sie was von unserer örtlichen Kirchenleitung gehört?

Ich habe nachgeforscht: Regionalbischof, früher war das der Landessuperintendent, Brandi, Stade, hat was geschrieben. Das war die einzige Sache, die ich auf der Internetseite der Hannoverschen Landeskirche gefunden habe. Dazu kamen zwei Artikel bei uns in der Meppener Tagespost, die aber dann von anderen Ereignissen berichteten, nicht hier bei uns.

Also ich gebe zu, es ist mir ein völliges Rätsel, wie das so völlig untergehen konnte, überhaupt kein Ansatz, es in die Öffentlichkeit zu bringen. 

Schweigen der Kirchen - auch in der Coronakrise

Und noch etwas anderes beschäftigt mich. Auch das hat was mit Schweigen zu tun, dass unsere Kirche, aber das ist dann auch gemeinsam mit der katholischen Kirche, dass unsere Kirche offensichtlich nicht in der Lage ist, zur aktuellen Krise, zur aktuellen Corona-Krise, zur Epidemie irgendetwas zu sagen, inhaltlich. Das Landeskirchenamt begleitet uns relativ ordentlich, wenn es darum geht, die staatlichen Vorschriften auszulegen, auf uns anzuwenden. Das will ich nicht in Abrede stellen. Und das hat schon die ganze Zeit gut geklappt. Aber eine Einschätzung, was denn vielleicht auch theologisch zu unserer Krise zu sagen ist - vielleicht auch mal in dieser Gesellschaft zu fragen, weshalb kommt so etwas, weshalb kommen wir nicht zurecht, weshalb ist es in der Politik hüh und hott und jenes und dieses, aber keine Linie …

Es ist aus meiner Sicht ein absolut beredtes Schweigen. Es ist offensichtlich nichts da, was unsere Kirche vortragen könnte. Dass Corona keine Strafe Gottes ist, ja, das hatten sie relativ schnell unisono in allen Kirchen gesagt; das will ich nicht unbedingt so aufgreifen, aber total abwegig wäre so ein Gedanke, den man ja auch entwickeln könnte und über den man weiter käme, wäre er nicht. 

Predigttext Jesaja 43

Und das hat auch etwas mit dem Predigttext zu tun, der für diesen Sonntag mit vorgesehen ist, aus dem Alten Testament, aus dem Propheten Jesaja 43. Kapitel. Es ist natürlich auch wieder einer der Marginaltexte, die nicht so im Mittelpunkt stehen.

“So spricht der Herr, euer Erlöser, der Heilige Israels: um euretwillen habe ich nach Babel geschickt und habe die Riegel eures Gefängnisses zerbrochen und zur Klage wird der Jubel der Chaldäer. Ich bin der Herr, euer Heiliger, der ich Israel geschaffen habe, euer König.”

Babylonisches Exil

Man muss ein bisschen in die Geschichte gehen, um diesen Satz zu verstehen. Babylonisches Exil - ich denke, der Begriff ist Ihnen soweit bekannt, darüber habe ich auch schon oft gesprochen: Israel hatte Gottes Weg verlassen, hatte gemeint, mit Großmächten sich anlegen zu können, zuerst mit den Assyrern, dann mit den Babyloniern. Sie hatten diesen Krieg verloren, die politischen Allianzen waren kaputt gegangen, die Babylonier hatten den Tempel in Jerusalem zerstört und die Oberschicht nach Babylon deportiert. Und dort mussten sie 70 Jahre im Exil, durchaus auch in der Unterdrückung, leben. Wobei sie ihr religiöses Leben weiter gestalten konnten. So, diese 70 Jahre waren vorbei und der Perserkönig Kyros war gekommen, hatte Babylon angegriffen und hatte die Macht genommen. Und Kyros war relativ judenfreundlich - und ließ dann Israel auch, soweit sie das wollten, wieder zurück. In diese Zeit hinein spricht der Text.

Gott handelt

Die Propheten sagen: “Das ist nicht alles Zufall, das ist nicht nur alles Politik, das ist nicht nur alles Schicksal, sondern hier handelt Gott!” Und das sagt der Prophet hier. “So spricht der Herr: Um euretwillen habe ich nach Babel geschickt und habe die Riegel eures Gefängnisses zerbrochen.” Es war Kyros, ja klar, aber in Gottes Auftrag. Gott ist der Lenker der Geschichte, Gott nimmt die Mächtigen und führt sie zu dem Ziel, wo er es möchte. Der Jubel der Chaldäa über Israel, der Jubel, alles gewonnen zu haben, ist zerbrochen in Klage. “Ich bin der Herr, euer Heiliger, der ich Israel geschaffen habe, euer König.”

Das ist das prophetische Bekenntnis zu Gott. Gott steht über uns, Gott hat die Fäden der Geschichte in der Hand, Gott lenkt uns; nicht als Marionetten, aber er hat ein Ziel mit uns. Und er macht das, ohne dass wir uns darum bemühen müssen. 

Ein kurzer Abschnitt nach unserem Predigttext: “Nicht, dass du mich gerufen hättest, Jakob, oder dass du dich um mich bemüht hättest, Israel. Du hast mir viel Arbeit gemacht mit deinen Sünden und hast mir Mühe gemacht mit deinen Missetaten. Ich, ich tilge deine Übertretung um meinetwillen und gedenke deine Sünden nicht mehr.”

Ganz glasklar spricht Gott hier die Übertretung Israels an, dass sie eben nicht auf seinem Weg gewesen sind, dass sie nicht nach seinem Wort gefragt haben, dass sie ihn haben links liegen lassen. Gottesdienste - ja, die haben wir noch gefeiert, schöne Opferfeste im Tempel, aber im Alltag, was hat Gott da zu suchen? Da zählt die Macht, da zählt die Politik, da zählt das Geld. Der Rest ist für den Tempel. 

Gott sagt: “Ich tilge das um meinetwillen. Erinnere mich”, sagt Gott weiter zu Israel, “lasst uns miteinander rechten, führ doch einfach mal auf, was du getan hast, wie du gelebt hast. Du willst ja recht haben, du meinst ja schon, zu Unrecht im Exil zu sein: Erinnere mich, lass uns miteinander rechten. Zähl alles auf, damit du recht bekommst. Versuch's doch!” 

“Schon dein Ahnherr hat gesündigt und deine Wortführer sind von mir abgefallen, darum, darum habe ich die Fürsten des Heiligtums entheiligt und Jakob dem Bann übergeben und Israel dem Hohn.” Das, was als Katastrophe in Israel passiert war, die vernichtenden Niederlage gegen die Assyrer und Babylonier, das, sagt der Prophet, war Gottes Werk. Zumindest ansatzweise könnte man darüber nachdenken, ob Corona auch etwas mit einem Gericht, einer Vergeltung, mit etwas zu tun hat, zu dem, wie wir leben. 

Jüdisches und christliches Glaubensfundament

Gott erinnert dann an das, was er mit Israel getan hat, wohin er Israel geführt hat, damals aus Ägypten. Das ist das Urekenntnis Israels. So wie wir unser Glaubensbekenntnis sprechen, “ich glaube an Gott den Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde, Jesus Christus, auferstanden von den Toten, der Heilige Geist, der uns bewegt”, so sagt Israel: “Gott hat uns aus Ägyptenland, aus dem Haus der sklaverei geführt in die Freiheit.”

“So spricht der Herr, der im Meer einen Weg und im starken Wasser Bahn macht, der ausziehen lässt Wagen und Rosse, Heer und Macht. Da liegen sie, stehen nicht wieder auf, sind verglüht wie ein Docht, erloschen.” Das ist die Hinausführung durch das Rote Meer, das sich spaltet, die Israeliten hindurch, die Ägypter mit Maus und Mann tot. 

Siehe, ich will Neues schaffen ...

Der nächste Vers ist auch in den Kommentaren, ich habe tatsächlich mir die Kommentare zu diesem Text noch einmal angeguckt, sehr umstritten: “Denkt nicht an das Frühere, achtet nicht auf das Vorherige” - das passt irgendwie nicht, aber ich komme gleich nochmal drauf -  “denkt nicht an das Frühere, achtet nicht auf das Vorherige, denn siehe” - darauf kommt es jetzt an, das will Gott seinem Volk sagen, deshalb hat er die Riegel der Knechtschaft, der Sklaverei zerbrochen - “denn siehe, ich will Neues schaffen, jetzt wächst es auf. Erkennt ihr es denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde, das Wild des Feldes preist mich, die Schakale und Strauße, denn ich will in der Wüste Wasser und in der Einöde Ströme geben, zu tränken meinem Volk, meine Auserwählten, das Volk, das ich mir Bereitet habe, soll meinen Ruhm verkündigen.”

Gott will etwas Neues wachsen lassen, auch nach Katastrophen. Wenn Gott uns vernichten, wenn Gott uns strafen wollte, wäre schon lange mit uns aus. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Bibel, Ersten und Zweiten Testamentes: Gottes Gnade, Gottes Zuspruch, Gottes Neuanfang. “Ich versuche es noch einmal mit euch, merkt erst er nicht? Das Wild des Feldes, die Schakale und die Strauße, die kriegen es mit. Aber mein Volk Israel …” - Frau Werner hat den Wochenspruch erwähnt, der passt hier an dieser Stelle aber so richtig: Ist jemand in Christus, ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden - das will Gott, Gott will uns Zukunft schenken, Gott will seiner Kirche, seinen Kirchen, seinen Christen Zukunft schenken. “Siehe, ich will Neues schaffen”. 

Siehe, ich will Neues schaffen - Zusammenarbeit der Konfessionen in Meppen

Es gibt dieses Neue, auch in und unter unseren Konfessionen - ich denke, einige von Ihnen haben die Videos zu Karfreitag und Ostern und Gründonnerstag, die wir gemeinsam hier in Meppen mit unseren Kollegen aufgenommen haben, gesehen. Freitag hat mir wieder eine Konferenz. Jeder von uns weiß, warum er evangelisch und warum er katholisch ist. Da wird auch nicht drum rum diskutiert, das ist so. Wir sind in diesen Traditionen groß geworden und wir wissen auch um unsere Vergangenheit. Aber wenn es darum geht, gemeinsam in dieser Stadt etwas zu bewirken, gemeinsam einen Gottesdienst zu planen, gemeinsam für Sie, für uns alle da zu sein, dann versuchen wir ganz ernsthaft als Christen gemeinsam diesen Weg zu gehen. Es gibt immer wieder kleine Ausrutscher, okay damit kann man und muss man leben, aber jeder unterstellt dem anderen, dass er unter Gottes Segen seinen Dienst tut, dass er für Gottes Wort eintritt, dass wir uns gemeinsam bemühen, Christen in dieser Welt zu führen, zu leiten und miteinander auf dem Weg zu sein. 

Wenn das Zukunft ist, wenn Gott etwas Neues wachsen lassen will, Christen miteinander, dann dürfen wir durchaus an Jubiläen wie 500 Jahre Worms erinnern. Das muss nicht auf Kosten der anderen gehen, sondern das, was Luther damals gesagt hat, das “Zeugnis der Schrift” und “klare Vernunftgründe", das wäre doch auch etwas, was heute zum Tragen kommen müsste. Christen müssen nicht an der Kirchentür oder sonstwo ihren Verstand, ihre Vernunft abgeben. 

Noch einmal Martin Luther: Zeugnis der Schrift und klare Vernunftgründen

Ich bin durch die Stellen der Heiligen Schrift, sagt Luther, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in Gottes Wort. Es ist nicht nur einfach, weil er sich das eingebildet hat, weil er sich das ausgedacht hat, weil er meint, es ist ja so schön, mal gegen die Kirche zu opponieren, nein. Gottes Wort sagt mir:  Aus Glauben werde ich gerecht, Gott nimmt uns an, weil wir seine Kinder sind, Gott schenkt Israel immer wieder eine neue Hoffnung, eine neue Zukunft, weil er sich dieses Volk auserwählt hat, das steht in der Heiligen Schrift, das ist Gottes Wort und das können wir mit klarem Verstand ergründen. Die Antwort des Kaisers macht deutlich: Er hat es nicht verstanden. “Es ist sicher, dass ein einzelner Bruder in seiner Meinung irrt, wenn diese gegen die ganze Christenheit steht, wie sie seit mehr als 1000 Jahren und heute gelehrt wird. Denn sonst hätte die ganze Christenheit bis heute geirrt.” 

“Ja, so ist das aber dann auch, wenn ich nicht durch das Zeugnis der Schrift und klare Vernunftgründen überzeugt werden kann und werde ich nicht widerrufen. Hier stehe ich ich kann nicht anders.”

Wenn das Position der lutherischen, wenn das Position der evangelischen Kirchen wäre, wenn das überhaupt Position der Kirchen wäre in der Welt - evangelisch und katholisch -  dann wäre der 500. Jahrestag des Reichstages nicht sang- und klanglos untergegangen. Und da hätten Kirchen in der Coronakrise auch etwas inhaltlich zu sagen. Wir müssen nicht unbedingt von Strafe reden, aber dass diese Coronakrise ein Weckruf ist, ein Aufruf, unser Leben zu überdenken - wo stehen wir, was haben wir vor uns, was gibt Gott uns - ich denke, das wäre jetzt dran. Das hat Jesus auch gesagt, als er auftritt: “Das Himmelreich ist nah herbeigekommen. Tut Buße, kehrt um.”

Que esta Iglesia sea un Arbol

Bevor Herr Detlau-Keire und ich das nächste Lied vortragen, will ich einmal auf sein Eingangsstück zu sprechen kommen, ganz kurz. Das Lied heißt spanisch “Que esta Iglesia sea un Arbol” Ich weiß nicht, ob ein Spanier das verstanden hätte, ich übersetze es gleich: 

Möge diese Kirche wie ein Baum hinter deinem Haus sein, dort in deinem Garten, Treffpunkt für Freude und ein Fest, ein einfaches Gebet unter seinen Zweigen. Mit Wurzeln in der so fruchtbaren Erde und Zweigen, die hoch zum Himmel emporragen, möge diese Kirche Früchte der Gerechtigkeit tragen, Taten der Liebe und des Mitgefühls. Ein Baum, der sein Wachstum empfängt durch lebendiges Wasser, das ewig aus Gott herausgeht.

Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus, Amen. 

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Notizen für die Predigt: 

“Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen.” Diese Worte werden Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms zugeschrieben. Wissen Sie wann das war? 18. April 1521. Wittenberger Pressestelle.

„… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“

In einer schriftlichen Erklärung berief sich der Kaiser am nächsten Tag auf seine Herkunft aus einem altgläubigen Geschlecht, gegenüber anderthalbtausend Jahren kirchlicher Tradition könne ein einzelner Mönch nicht Recht haben: „Es ist sicher, daß ein einzelner Bruder in seiner Meinung irrt, wenn diese gegen die der ganzen Christenheit (steht), wie sie seit mehr als tausend Jahren und heute gelehrt wird, … denn sonst hätte ja die ganze Christenheit heute und immer geirrt.“ 

Worms Rheinland-Pfalz.

Das Schweigen der Kirche, der Kirchen zur Coronapandemie. Einig war man sich nur sehr schnell: Corona ist keine Strafe Gottes. 

14 So spricht der HERR, euer Erlöser, der Heilige Israels: Um euretwillen habe ich nach Babel geschickt und habe die Riegel eures Gefängnisses zerbrochen, und zur Klage wird der Jubel der Chaldäer. 15 Ich bin der HERR, euer Heiliger, der ich Israel geschaffen habe, euer König. 

22 Nicht, dass du mich gerufen hättest, Jakob, oder dass du dich um mich gemüht hättest, Israel. … Du hast mir Arbeit gemacht mit deinen Sünden und hast mir Mühe gemacht mit deinen Missetaten. 25 Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht.

26 Erinnere mich, lass uns miteinander rechten! Zähle alles auf, damit du recht bekommst! 27 Schon dein Ahnherr hat gesündigt, und deine Wortführer sind von mir abgefallen. 28 Darum habe ich die Fürsten des Heiligtums entheiligt und Jakob dem Bann übergeben und Israel dem Hohn.

16 So spricht der HERR, der im Meer einen Weg und in starken Wassern Bahn macht, 17 der ausziehen lässt Wagen und Rosse, Heer und Macht – da liegen sie, stehen nicht wieder auf, sind verglüht wie ein Docht, erloschen: 

18 Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! 

19 Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr's denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde. 20 Das Wild des Feldes preist mich, die Schakale und Strauße; denn ich will in der Wüste Wasser und in der Einöde Ströme geben, zu tränken mein Volk, meine Auserwählten; 21 das Volk, das ich mir bereitet habe, soll meinen Ruhm verkündigen.

„Ist jemand in Christus, so ist eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“

Siehe, ich will ein Neues schaffen … Zusammenarbeit der Pastores in Meppen. - “Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige!” - Nicht die lutherische Sache gegen die Katholiken. Aber dass da einer aufgestanden ist und gegen Willkür in der theologischen Auslegung der Heiligen Schrift aufbegehrte, das will ich festhalten, das will ich würdigen. Zweimal beschreibt Luther, wie er die Beschäftigung mit der Bibel erlebt.

“... ich bin durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes …”

„Es ist sicher, dass ein einzelner Bruder in seiner Meinung irrt, wenn diese gegen die der ganzen Christenheit (steht), wie sie seit mehr als tausend Jahren und heute gelehrt wird, … denn sonst hätte ja die ganze Christenheit heute und immer geirrt.“ 

“... wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde …”, 

Wenn das Position in der lutherischen, in der evangelischen Kirche wäre, dann hätte sie den 500. Jahrestags des Reichstages zu Worms nicht so sang- und klanglos verstreichen lassen, und dann hätte diese Kirche auch etwas zu sagen zur Coronapandemie. Ein Weckruf. 

Bevor wir das nächste Lied singen, will ich Ihnen den Titel des musikalischen Orgelvorspiels nennen, mit dem Herr Detlau-Keire den Gottesdienste eröffnete: Que esta Iglesia sea un Arbol - 

Möge diese Kirche wie ein Baum hinter deinem Haus sein, dort in deinem Garten, Treffpunkt für Freude und ein Fest, ein einfaches Gebet unter seinen Zweigen. Mit Wurzeln in der so fruchtbaren Erde und Zweigen, die hoch zum Himmel emporragen, möge diese Kirche Früchte der Gerechtigkeit tragen, Taten der Liebe und des Mitgefühls. Ein Baum, der sein Wachstum empfängt durch lebendiges Wasser, das ewig aus Gott entspringt.